Am 21. November 2011 geht Susanne Keller* durch die Hölle. Sie wacht in aller Frühe auf, als ihr Ehemann ihre Nähe sucht und sich an sie drückt. Sein Atem riecht nach Alkohol. Obwohl er gerade den zigten Entzug hinter sich hat, hängt er bereits wieder an der Flasche. Angewidert dreht sie sich weg. Die letzten zehn Ehejahre waren schlimm und geprägt von seiner Alkoholsucht. Immer wieder Therapie, immer wieder Absturz. Mehrmals dachte sie über eine Scheidung nach, wagte es aber nie, konkret zu werden. Er setzte sie psychisch und verbal unter Druck, sie fühlte sich eingeschüchtert. Geschlagen hat er sie vorher jedoch nie.
Aber an jenem Montagmorgen dreht er durch. Mit Gewalt will er sie zu Sex zwingen, sie windet sich aus seiner Umklammerung, geht aus dem Schlafzimmer, er ihr nach. Er wirft sie zu Boden, sie stösst sich dabei den Kopf an der Wand an. Er setzt sich auf sie, reisst ihr die Pyjama-Hose runter, dringt mit der Hand in sie ein, beisst und kratzt sie, hält ihr den Mund und die Nase zu. Je mehr sie schreit, desto mehr rastet er aus.
Für sie ist es ein Kampf ums Überleben. Sie bekommt keine Luft, strampelt, tritt, schlägt. Irgendwie kann sie sich befreien. Sie rennt mit dem Telefon ins Badezimmer, schliesst sich ein und ruft die Polizei. Er beginnt, die Türe zum Badezimmer einzuschlagen. Sie klettert aus dem Fenster auf die Terrasse und rennt auf die Strasse. Dort kommt ihr ein Polizeiauto entgegen.
Der heutige Ex-Mann von Keller wird Ende 2012 der versuchten vorsätzlichen Tötung und der sexuellen Nötigung schuldig gesprochen. Er wird zu einer Freiheitsstrafe verurteilt und muss Keller eine Genugtuung von 25'000 Franken bezahlen. Gegen das Urteil legt der Ex-Mann Berufung ein. Doch das Kantonsgericht bestätigt den Schuldspruch der Vorinstanz ein Jahr später.
Sechseinhalb Jahre sind seit dem schlimmsten Tag im Leben von Keller vergangen, viereinhalb Jahre seit ihr Ex-Mann rechtskräftig verurteilt wurde. Doch noch immer gibt es kaum eine Nacht, in der Keller ruhig schlafen kann. Das Vorgefallene verfolgt sie in ihre Träumen. Dann schreit sie, wacht auf, panisch und voller Angst.
Auch im realen Leben kann sie keinen Schlussstrich ziehen. Keller hat von der ihr zugesprochenen Genugtuung bis heute noch keinen Rappen gesehen. Gebrauchen könnte sie das Geld gut. 25'000 Franken würden zwar das Geschehene nicht wieder gut machen. Doch es würde einen Teil ihrer Schulden decken, die sich seit der Scheidung bei ihr häufen. Und die Anerkennung ihres seelischen Schmerzes würde ihr etwas Ruhe geben.
Doch das Problem ist: Oftmals kann der Täter die Genugtuung aus finanziellen Gründen nicht bezahlen. Das Opfer kann in diesem Fall ein Gesuch bei der kantonalen Opferhilfestelle einreichen. Weil dann also nicht der Täter sondern der Kanton und damit die Allgemeinheit das Schmerzensgeld für das Opfer bezahlt, muss der Fall neu beurteilt werden, um die Höhe des Betrags festzulegen. Die Berechnung richtet sich nach dem Opferhilfegesetz und entspricht nicht unbedingt dem Betrag, der das Gericht gesprochen hat.
Und ebendiese Berechnung ist bei Fällen, wie jenem von Keller schwierig und langwierig. Denn wer von einer Tat einen dauerhaften und erheblichen gesundheitlichen Schaden davon trägt, erhält auch von der Unfallversicherung Geld; eine sogenannte Integritätsentschädigung. Dies ist ebenfalls eine Art Schmerzensgeld, das einmalig ausbezahlt wird.
Doch auch bei dieser Integritätsentschädigung dauert es lange, bis feststeht, wie hoch der zu bezahlende Betrag sein soll. Ärztliche Gutachten sind nötig. Und Gutachten zu erstellen dauert. Vor allem wenn die psychische Gesundheit beeinträchtigt ist, so wie dies bei Keller der Fall ist.
Zusammengefasst heisst das: Keller hat Anspruch auf Geld, eventuell aus verschiedenen Töpfen. Noch ist jedoch unklar, wie viel Geld sie aus welchem Topf erhalten soll. Klar ist aber: Keller wird eine Genugtuung erhalten. Irgendwann.
Und genau dieses Wörtchen «irgendwann» ist es, das für die Opfer wahnsinnig zermürbend ist. Im Fall von Keller wurde das Gesuch auf Opferhilfe Ende 2014 eingereicht. Seither ist sie im Ungewissen. Sie sagt: «So kann ich nicht abschliessen. Es braucht jeweils nicht viel, eine Mail von meiner Anwältin reicht, und es reisst mich jedes Mal wieder total aus der Bahn.»
Sandra Müller, Leiterin der Opferhilfestelle im Kanton Zürich sagt: «Damit die Opfer einen Vorfall verarbeiten können, ist es für sie wichtig zu wissen, ob und wieviel sie bekommen.» Dauert ein Verfahren länger, müssen die Opfer gut beraten und betreut werden.
In Kellers Fall haben diese Auffangmechanismen versagt. Zwar wurde sie nach der traumatisierenden Tat von einer Opferhilfeberatung betreut. Doch über die Jahre brach der Kontakt ab. Jetzt bleiben ihr nur zwei dicke Aktenordner voll mit Zettel gespickt mit juristischen Begriffen. Sie sitzt auf dem Sofa, den einen Ordner auf den Knien und blättert durch die Gutachten, Beschlüsse, Anordnungen. Sie hält inne und sagt: «Hier steht es doch, schwarz auf weiss. Ich hab Anrecht auf das Geld.»
*Name der Redaktion bekannt.