Es war eine kleine Sensation. Die Schweiz setzte sich 2012 gegen den Internet-Giganten Google durch. Die Firma musste Bilder von sensiblen Orten wie Polizeiposten, Schulen, Gerichten oder Gefängnissen aus ihrer interaktiven Strassenkarte «Google Street View» sperren. Konnte man vorher beinahe unbeschränkt virtuell durch die Strassen streifen und mit einer 360-Grad-Kamera um sich blicken, wurde der Dienst nach einem Bundesgerichtsentscheid eingeschränkt. Wer sich in Zürich etwa dem Polizeiposten Urania virtuell nähern möchte, bleibt unweigerlich auf der Rudolf-Brun-Brücke stecken. Das Gleiche gilt für die alte Militärkaserne, wo die Kantonspolizei zu Hause ist.
Allerdings: Das provisorische Polizeigefängnis kann man von der Kasernenwiese aus virtuell einsehen. Über einen blauen Punkt auf der Karte gelangt man zu einer 360-Grad-Aufnahme von der Kasernenwiese. Neben dem Gefängnis ist auch der Polizeiposten samt parkierten Autos sichtbar.
Vor dem Universitätsspital zeigt Google ein Rundum-Foto des Haupteinganges. Eine Frau mittleren Alters raucht dort eine Zigarette. Ihr Gesicht ist nicht verwischt, die Frau erkennbar. Ein paar Meter neben ihr sieht man einen jungen Mann, der Motorradkleidung trägt und zwischen zwei Motorrollern steht. Auch sein Gesicht ist nicht verwischt. Das Nummernschild eines der Roller ist lesbar. Vor dem Obergericht bietet nur die schlechte Qualität der Aufnahme etwas Anonymität für einen Herrn im lachsfarbenen Hemd, der auf das Gericht zugeht.
Wie kann es sein, dass Google unverpixelte Bilder von Menschen veröffentlicht? Dazu noch in der Nähe von heiklen Gebäuden wie Gerichten oder Spitälern? Hat die automatische Anonymisierung vor dem Unispital nicht funktioniert?
Es handelt sich bei den Beispielen um private Aufnahmen von einzelnen Nutzern, die Google auf seiner Karte integriert hat. Google wendet sein Anonymisierungsprogramm aber nur bei den eigenen Aufnahmen an, bei den Privaten nicht. «Google setzt die Vorgaben des Bundesgerichtsurteils von 2012 in Bezug auf den Street-View-Dienst auf Google Maps vollumfänglich um und hat entsprechend Anpassungen des Dienstes in der Schweiz vorgenommen», lässt Google über eine PR-Agentur ausrichten.
Der eidgenössische Datenschutzbeauftragte bestätigt die Sicht von Google: Das Bundesgerichtsurteil gilt nur für Google-Aufnahmen, nicht aber für die privaten Bilder, die dort ebenfalls zur Verfügung gestellt werden. Wer sich auf Google-Bildern von Privaten unkenntlich machen will, kann dies über eine eigene Funktion tun. Nach einem Artikel in der Zeitschrift «Beobachter» ist sie nun in allen Landessprachen verfügbar.
Damit nicht zufrieden gibt sich der ehemalige Datenschützer Hanspeter Thür. Er hatte den Teilsieg gegen Google damals errungen. «Es reicht nicht, wenn Google in den allgemeinen Geschäftsbedingungen die Verantwortung an die Nutzer abschiebt», sagte er. Wer die Plattform zur Verfügung stelle, hafte auch für die Inhalte. «Ich bin überzeugt, dass Gerichte dieses Verhalten als illegal taxieren würden», so Thür.
Der gleichen Meinung ist Bruno Baeriswyl, Datenschutzbeauftragter des Kantons Zürich: Google erwecke gegenüber dem User den Eindruck, dass es sich um ein Google-Produkt handle. Also liege auch die Verantwortung für den Inhalt bei Google. Baeriswyl ist mit der Situation unzufrieden: «Das ist nicht Verwischerei, sondern Augenwischerei von Google», sagt er in Bezug auf die anonymisierten Street-View-Bilder. «Aufgrund des Bundesgerichtsurteils musste Google nie befürchten, dass eine Aufsichtsstelle ernsthaft in der Lage wäre, die Umsetzung des Urteils wirklich zu prüfen», so Baeriswyl.
Den Zürcher Datenschützer stört, dass Google nicht verpflichtet wurde, die Daten zu anonymisieren, sondern Gesichter und Autokennzeichen nur beim Abruf «verwischt» werden müssen. Google verfüge also jederzeit über nicht anonymisierte Daten, die in den USA gespeichert werden.
Wenig wahrscheinlich ist, dass Google seine Praxis vor Gericht rechtfertigen muss. Dank der Möglichkeit, unerwünschte Bilder zu melden, ist der mutmassliche Rechtsverstoss schnell wieder aus der Welt geschafft, wenn er denn von den Betroffenen überhaupt wahrgenommen wird. Die Geschädigten haben kein Interesse mehr an einem langen und teuren Verfahren.
Laut Ex-Datenschützer Thür fehlt es weltweit an einem Präzedenzfall. Das Unispital Zürich prüft indes Schritte wegen der Bilder mit erkennbaren Personen vor dem Haupteingang. Der Schutz der Persönlichkeitsrechte der Patienten, Besucher und Mitarbeitenden sei ein grosses Anliegen, schreibt eine Sprecherin auf Anfrage. (aargauerzeitung.ch)