Schweiz
Drogen

Schweizer Polizeien erteilen 60% weniger Cannabis-Ordnungsbussen

ARCHIVBILD ZUR MK DES BUNDESRATES UEBER PILOTVERSUCHE MIT CANNABIS, AM DONNERSTAG, 28. FEBRUAR 2019 - A CBD hemp plant bud, pictured at Medropharm in Kradolf-Schoenenberg, Canton of Thurgau, Switzerla ...
Laut dem Bundesgerichtsurteil von 2017 dürfen Kiffer für den blossen Besitz von unter 10 Gramm Cannabis nicht mehr gebüsst werden.Bild: KEYSTONE

Good News für Kiffer: Polizeien verteilten massiv weniger Bussen – aber es gibt Ausnahmen

2017 fällte das Bundesgericht in Lausanne ein wegweisendes Urteil für Kiffer. Der Besitz von unter 10 Gramm Cannabis ist neu straffrei. Nun haben die meisten Polizeicorps reagiert – doch es gibt auch Abweichler.
03.04.2019, 06:2303.04.2019, 15:02
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Das Bundesgericht in Lausanne urteilte im September 2018 im Falle eines Baslers wegen Verstoss gegen das Betäubungsmittelgesetz (BetmG). Er wurde in der Stadt Basel im Dezember 2015 mit 0,5 Gramm Marihuana und 0,1 Gramm Haschisch erwischt und die Polizei stellte ihm Verfahrenskosten und Gebühren von insgesamt etwa 300 Franken in Rechnung.

Das Bundesgericht sprach den Beschuldigten von allen Kosten frei. Es entschied, dass «der blosse Besitz von geringfügigen Drogenmengen zu Konsumzwecken» unter Artikel 19b des BetmG fällt und somit straffrei bleibt. Damit wurde ein Grundsatzentscheid zur Auslegung des umstrittenen Artikel 19b gefällt. Der Konsum steht jedoch weiterhin unter Strafe.

Nach diesem Entscheid dürften die Polizisten also für den Besitz von unter 10 Gramm Cannabis keine Ordnungsbussen mehr verteilen. In einem Artikel vom «Tages-Anzeiger» kurz nach dem Urteil erklärte der Zürcher Polizeisprecher Marco Cortesi jedoch, dass Kiffer weiterhin gebüsst werden.

Art. 19b BetmG:
Wer nur eine geringfügige Menge eines Betäubungsmittels für den eigenen Konsum vorbereitet oder zur Ermöglichung des gleichzeitigen und gemeinsamen Konsums einer Person von mehr als 18 Jahren unentgeltlich abgibt, ist nicht strafbar.
quelle: admin.ch

Änderung in der Praxis tritt ein

Neue Zahlen des Bundesamtes für Statistik zeigen nun jedoch, dass sich in der polizeilichen Praxis tatsächlich ein Wandel abzeichnet. Die Anzahl ausgestellter Ordnungsbussen wegen Besitz und Konsum von Cannabis sind schweizweit von 2017 auf 2018 um 60 Prozent zurückgegangen.

Anzahl ausgestellter Ordnungsbussen wegen des Konsums von Cannabis aus den Jahren 2015 bis 2018. quelle: bfs

So wurden 2018 nur noch 7153 solcher Bussen ausgestellt, im Vorjahr waren es noch über 18'000. Besonders in den Kantonen der Westschweiz verzichtete die Polizei häufiger auf das Büssen von Kiffern. In Neuenburg gingen die Bussen von 464 auf 66 beziehungsweise um über 85 Prozent zurück.

quelle: bfs

Doch auch in den meisten anderen Kantonen ist ein Rückgang zwischen 50 und 80 Prozent zu beobachten. Im Kanton Zürich wurden letztes Jahr 2000 Bussen weniger ausgestellt. Das entspricht einem Rückgang von 70 Prozent. Die Kantonspolizei bestätigt auf Anfrage von watson, dass die Zahlen tatsächlich wegen des Bundesgerichtsentscheids gesunken sind.

Für den Rechtsanwalt und BetmG-Experten Stephan Schlegel leitet die Umsetzung des Bundesgerichtsurteils nun endlich die geplante Entkriminalisierung von Cannabis ein: «Das Gesetz wird nun endlich so umgesetzt, wie es vor über zehn Jahren geplant war.»

Die schlechte Nachricht: Es dürfte sehr schwierig sein, rückwirkend das Geld für bezahlte Ordnungsbussen zurückzufordern. «Das Ordnungsbussenverfahren ist weitgehend anonym. Wer die Rechnung bezahlt hat, hat seine Rechte auf eine Rückforderung verwirkt», so Schlegel.

Nicht alle folgen dem Bundesgerichtsurteil

Die einzigen Ausnahmen sind der Kanton Appenzell Ausserrhoden, Basel-Landschaft und Bern. In den kleineren beiden Kantonen ist dies auf die kleinen Fallzahlen zurückzuführen. In Appenzell Ausserrhoden wurden letztes Jahr 26 und im Kanton Basel-Landschaft 49 solcher Bussen ausgestellt.

ZUR MELDUNG, DASS DIE STADT BERN VERSUCHSWEISE CANNABIS IN APOTHEKEN VERKAUFEN MOECHTE, STELLEN WIR IHNEN AM MONTAG, 14. MAERZ 2016, FOLGENDES ARCHIVBILD ZUR VERFUEGUNG - Raucher zuendet sich einen Jo ...
Wer mit einem angezündeten Joint von der Polizei erwischt wird, erhält in der ganzen Schweiz weiterhin eine Ordnungsbusse von 100 Franken.Bild: KEYSTONE

In Bern hingegen stieg die Zahl von 196 auf 203. Die Kantonspolizei Bern setzt das Gesetz jedoch bereits seit 2013 im Sinne des Bundesgerichtsentscheid durch. «Ein Ordnungsbussenverfahren ist nur dann möglich, wenn unsere Mitarbeitenden in Uniform den Konsum von Cannabis selber feststellen», sagt Dino Dal Farra, Mediensprecher der Kantonspolizei Bern.

In Bern wurde also bereits seit 2013 niemand mehr gebüsst, der lediglich eine geringfügige Menge auf sich trug. Deshalb kam es hier in den letzten zwei Jahren kaum zu einer Verringerung von Ordnungsbussen. «So lässt sich auch erklären, dass die Anzahl Ordnungsbussen wegen Konsums von Cannabis im Kanton Bern im Verhältnis zur Bevölkerungszahl, aber auch im Vergleich zu anderen Kantonen über die letzten Jahre betrachtet eher tief war», so Dal Farra weiter.

Anzahl Cannabis-Ordnungsbussen pro 1000 Einwohner nach Kanton im Jahr 2018.quelle: bfs
Anzahl Cannabis-Ordnungsbussen pro 1000 Einwohner nach Kanton im Jahr 2017.quelle: bfs

Der Kanton St. Gallen zieht dieses Jahr nach

Die meisten Fallzahlen stammen 2018 aus dem Kanton St. Gallen. Auch hier gab es wie in Bern 2018 noch keine Änderung der polizeilichen Praxis. «Die Kantonspolizei St. Gallen hat gestützt auf den Bundesgerichtsentscheid ihre Praxis ab dem 1. März dieses Jahres geändert», sagt Gian Andrea Rezzoli, Mediensprecher der Kantonspolizei St. Gallen.

Deshalb ist zu erwarten, dass die Zahlen für 2019 auch im Kanton St. Gallen zurückgehen. 2018 belegt der Ostschweizer Kanton im Vergleich der absoluten Zahlen mit 1171 ausgestellten Ordnungsbussen den Spitzenplatz. Damit wurde fast jede sechste Cannabis-Ordnungsbusse in St. Gallen ausgestellt.

Für BetmG-Experte Schlegel ist diese Verzögerung rechtswidrig: «Es gibt spätestens seit September 2017 keine rechtliche Grundlage mehr, Personen für den Besitz von geringfügigen Mengen zu bestrafen. Das gilt auch für den Kanton St. Gallen.»

Der Kanton habe aber schon länger im Betäubungsmittel-Bereich auf eine eigene Rechtspraxis gesetzt. So unterscheide sich die Rechtsprechung dort schon länger vom Rest der Schweiz. «Daher überrascht es mich nicht, dass es nun in St. Gallen ein bisschen länger für die Umstellung gedauert hat», sagt Schlegel.

Der lange Streit um Artikel 19b

Es gab mehrere Versuche, Artikel 19b neu zu interpretieren und damit den blossen Besitz von Cannabis nicht mehr unter Strafe zu stellen. Mit dabei war auch der damalige Jus-Student Till Eigenheer.

Dieser verteidigte bereits 2015 einen Mandanten vor dem Zürcher Bezirksgericht und erhielt Recht. Weil es damals das Stadtrichteramt versäumte, fristgerecht in Berufung zu gehen, wurde der Fall nicht weitergezogen.

ZUR MELDUNG, DASS DIE STADT BERN VERSUCHSWEISE CANNABIS IN APOTHEKEN VERKAUFEN MOECHTE, STELLEN WIR IHNEN AM MONTAG, 14. MAERZ 2016, FOLGENDES ARCHIVBILD ZUR VERFUEGUNG - On prepare un joint de cannab ...
Wie weit geht die Vorbereitung? Darum drehte sich der Streit um Artikel 19b.Bild: KEYSTONE

Im September 2017 unternahm Eigenheer einen weiteren Anlauf mit einem Mandanten und erhielt vor dem Bezirksgericht erneut Recht. Wenige Tage später fällte das Bundesgericht in Lausanne aber das Urteil im Basler Fall.

Konkret ging es um folgenden Satz im BetmG: «Wer nur eine geringfügige Menge eines Betäubungsmittels für den eigenen Konsum vorbereitet [...] ist nicht strafbar.» Es stellte sich damals die Frage, ob «vorbereitet» den blossen Besitz einschliesst oder nicht.

Der Kampf geht weiter

Nun stellt sich die Frage, ob sich diese Änderung der Rechtspraxis auch auf Jugendliche bezieht. Im Juni 2018 gab es beim Obergericht in Zürich dafür einen Entscheid. Das Gericht hebt damit das erste Urteil der ersten Instanz auf.

Auch für Schlegel ist klar: «Was für Erwachsene gilt, muss auch für Jugendliche gelten. Es steht nicht im BetmG, dass es für Jugendliche andere Bestimmungen gibt.» Die Staatsanwaltschaft hat den Fall nun an das Bundesgericht weitergezogen, dort soll grundsätzlich geklärt werden, ob Artikel 19b in Zukunft auch für Jugendliche Anwendung findet.

Wird Cannabis jetzt über die Hintertüre legalisiert?

Video: srf

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SVP-Professor Hans-Ueli Vogt (ZH) beantwortete die Frage, ob der Besitz von Cannabis für den Eigengebrauch legalisiert werden soll, auf Smartvote mit einem beherzten «Ja.»
quelle: keystone / walter bieri
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20 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Markus97
03.04.2019 06:43registriert August 2018
Als ich vor einigen Wochen nach einem Konzert mit ein paar Leuten an einem Joint zog kamen einige Zivilpolizisten vorbei. Sie baten uns freundlich an einen anderen Ort zu gehen. Den einen Kumpel erinerrten sie sogar daran noch sein volles Säckchen mitzunehmen. 😂
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Statler
03.04.2019 09:03registriert März 2014
Der Besitz von geringen Mengen ist also straffrei, der Konsum hingegen weiterhin strafbar?

Macht ja unheimlich Sinn...
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pun
03.04.2019 08:51registriert Februar 2014
Und warum genau vollzieht der Kanton St. Gallen das Bundesgerichtsurteil erst 1,5 Jahre später? Es kann selbst mit St. Galler Dialekt nicht sooo verdammt schwierig sein, seinen Polizist*innen mitzuteilen, dass sie nur noch bei Konsum eine Busse verteilen dürfen.
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