Wir Schweizerinnen und Schweizer lieben die direkte Demokratie. Wir lieben sie so sehr, dass wir kaum genug von ihr bekommen. Allein letzte Woche wurde die Unterschriftensammlung für zwei neue Volksbegehren gestartet. Am Montag stellten die Jungen Grünen ihre Zersiedelungsinitiative vor. Neue Bauzonen soll es nur geben, wenn eine gleich grosse Fläche ausgezont wird. Tags darauf lancierten 66 NGOs die Konzernverantwortungsinitiative. Sie will global tätige Unternehmen verpflichten, bei ihren Geschäften die Menschenrechte zu beachten.
Die beiden Vorlagen liegen voll im Trend. Seit Anfang 2014 allein wurden 15 neue Volksinitiativen lanciert, im Schnitt also etwa eine pro Monat. Dabei halten sich die politischen Parteien im Wahljahr 2015 für einmal zurück. Die SP hat ihre bereits aufgegleiste Kindergutschrift-Initiative im letzten Dezember gestoppt. Von den grösseren Parteien zieht einzig die SVP wie gewohnt mit einem Volksbegehren in den Wahlkampf, der im März lancierten Selbstbestimmungsinitiative.
Die Flut an immer neuen und kontroversen Initiativen ist manchen ein Dorn im Auge. Die liberale Denkfabrik Avenir Suisse hat vor zwei Wochen ihre Ideen für eine Reform der Volksrechte vorgestellt. Kernstück ist eine Erhöhung der Unterschriftenzahl für Volksinitiativen. Künftig soll keine absolute Zahl mehr gelten, sondern ein Quorum von vier Prozent der Stimmberechtigten. Das entspräche derzeit rund 210'000 Unterschriften. Als «Ausgleich» schlägt Avenir Suisse eine Gesetzesinitiative vor, für die ein halb so hohes Quorum von zwei Prozent gelten soll.
Die letzte Erhöhung der Unterschriftenzahl datiert von 1978. Nach der Einführung des Frauenstimmrechts kam es zu einer Verdoppelung von 50'000 auf 100'000. Dennoch gab es kaum Widerstand, Volk und Stände segneten ihren «Machtverlust» an der Urne ab. Damals aber hatte die SVP die Volksinitiative noch nicht als Kampfmittel entdeckt.
Es ist denn auch weniger die Zahl der Initiativen, die Avenir Suisse zum Handeln veranlasste, sondern ihre zunehmende Radikalität. Die Volksinitiative sei nicht mehr, was sie einmal war, sagte Avenir-Suisse-Direktor Gerhard Schwarz: «Aus dem Garant für Stabilität wurde ein Wahlkampf- und Werbeinstrument für Parteien und Splittergruppen.» Die SVP spielt dabei eine Vorreiterrolle, auch mit ihrer neuen Selbstbestimmungsinitiative, die indirekt auf eine Kündigung der Europäischen Menschenrechtskonvention abzielt.
Unter den Initiativen, für die derzeit Unterschriften gesammelt werden, befinden sich weitere von zweifelhaftem Inhalt. Da wäre etwa die Hornkuh-Initiative. Sie verlangt, dass Halterinnen und Halter von Kühen, Zuchtstieren, Ziegen und Zuchtziegenböcken finanziell unterstützt werden, «solange die ausgewachsenen Tiere Hörner tragen». Vollends kabarettistisch ist die Volksinitiative «zur Ausschaffung krimineller Männer», lanciert von einer Basler Künstlergruppe. Sie ist inhaltlich an die Durchsetzungsinitiative der SVP angelehnt und will diese ad absurdum führen.
Markus Müller, Staatsrechtler an der Uni Bern, kann derartigen Provokationen nichts abgewinnen, wie er in einem Beitrag für die NZZ festhält. Die Männerinitiative und ihr «Vorbild», die Durchsetzungsinitiative, seien rechtsmissbräuchlich und deshalb Scheininitiativen. «Sie belasten das System und ermüden die sonst schon arg strapazierte Stimmbevölkerung», schreibt Müller. Als Ausweg empfiehlt er nicht eine höhere Unterschriftenzahl. Solche Initiativen seien «ohne Wenn und Aber für ungültig zu erklären», bereits bei der Vorprüfung durch die Bundeskanzlei.
Avenir Suisse fordert ebenfalls eine striktere Anwendung der bisherigen Ungültigkeitsgründe. Die höhere Unterschriftenhürde allerdings hat es schwer. Dies zeigen Reaktionen aus den Reihen der SVP und ihres Umfelds, wo die Volksrechte zunehmend verabsolutiert werden und jeder Reformvorschlag in den Ruch des Landesverrats gerät. Die Denkfabrik sah sich genötigt, auf ihrer Website eine Rechtfertigung unter dem Titel «Kein Demokratieabbau!» zu veröffentlichen.
Das ändert nichts daran, dass eine Erhöhung der Unterschriftenzahl sinnvoll ist, nicht nur mit Blick auf die Quantität, sondern auch auf die Qualität der Volksinitiativen. Die massive Ablehnung der CVP-Familieninitiative und vor allem der Energiesteuerinitiative der GLP am 8. März wurde da und dort als Ausdruck jener Ermüdung des Stimmvolks interpretiert, vor der Staatsrechtler Müller warnt. «Soll die direkte Demokratie der Schweiz nicht zum Mythos verkommen, bedarf unsere demokratische Kultur permanenter und intensiver Pflege», schreibt er im NZZ-Artikel.
- Für das "Volk" sind die 100'000 Unterschriften bereits kaum machbar. Ich will die direkte Demokratie nicht an die Reichen abtreten.
- Die Schweiz braucht sowieso dringend ein Verfassungsgericht, dieses soll auch die Prüfung von Initiativen übernehmen.
- Die Schweiz versucht seit Jahrzehnten, eine Gesetzesinitiative zu realisieren. Den jüngsten Ansatz haben wir 2009 wieder verworfen, weil nicht umsetzbar. Wer glaubt, man könne einfach so eine Lösung herzaubern, ist naiv.