Kneifen gilt nicht. Diese Message senden sie derzeit alle aus: Zuerst die CVP in einem offenen Brief, dann Bundesrat Ignazio Cassis vor über tausend Wirtschaftsvertretern in der Westschweiz. «Die Wirtschaft muss Farbe bekennen», forderte der FDP-Aussenminister in einer Ansprache an der ETH Lausanne eindringlich.
Der Appell bezieht sich auf die Europa-Debatte, welche die Schweiz demnächst in aller Heftigkeit erfassen dürfte. Cassis will die Streitfrage über ein Rahmenabkommen mit der EU noch in diesem Jahr klären. Die Gegenwehr organisiert SVP-Doyen Christoph Blocher. Er hat sogar seinen Posten in der SVP-Parteileitung aufgegeben, um sich voll und ganz auf seine Mission konzentrieren zu können.
Für den Geschmack der Befürworter verhält sich die Wirtschaft in der Frage bislang zu passiv. Die «divergierenden Meinungsäusserungen» von Verbänden und Unternehmen seien nicht dienlich, ärgerte sich die CVP in ihrem Schreiben. Und FDP-Chefin Petra Gössi sagte am Freitag in einem Interview mit dem «Tages-Anzeiger», die Wirtschaftsverbände seien «mit Ausnahme von Swissmem in der Öffentlichkeit noch zu wenig spürbar».
Tatsächlich jedoch laufen die Vorbereitungen für die alles entscheidende EU-Schlacht in vielen Verbänden bereits seit Monaten auf Hochtouren, wie eine Recherche zeigt. So etwa beim Industrieverband Scienceindustries – in dessen Vorstand auch SVP-Nationalrätin und EMS-Chemie-Chefin Magadalena Martullo-Blocher sitzt.
Vor zwei Wochen redete sich mit Peter Gehler ein Vertreter von Scienceindustries in der «Arena» den Frust von der Seele. «Was wirklich langsam lästig wird für die Wirtschaft, ist, dass wir seit Jahren ständig unter Attacke stehen – unter anderem von Ihrer Partei», konfrontierte er Christoph Blocher in der Sendung.
Gehler trat dabei nicht als Einzelmaske auf. Marcel Sennhauser, Vorsitzender der Geschäftsleitung bei Scienceindustries, bestätigt, der Verband habe bereits vor Monaten damit begonnen, sich für die EU-Debatte zu wappnen. So hat sich der Vorstand intensive Gedanken dazu gemacht, unter welchen Bedingungen ein Rahmenabkommen – intern ist die Rede von einem «Marktzugangsabkommen» – in der Schweiz mehrheitsfähig wäre.
Gleichzeitig hat Scienceindustries die Nein-Parole zur Kündigungs- und zur Selbstbestimmungsinitiative der SVP gefasst. Sennhauser sagt, in allen drei Fragen seien die potenziellen Folgen für die Wirtschaft weitreichend. Darum beziehe man bereits früher Position als gewöhnlich.
«Wir brauchen Rechtssicherheit. Für uns ist deshalb klar, dass wir es nicht allein der Politik überlassen können, die Bevölkerung frühzeitig zu sensibilisieren», so Sennhauser. Ziel sei es, sowohl nach innen als auch nach aussen zu informieren. Ob sich die anderen Vorstandsmitglieder geschlossen gegen Magdalena Martullo-Blocher gestellt haben, will Sennhauser nicht sagen. Es sei das gute Recht eines jeden Vorstandsmitglieds, die eigene Position zu vertreten. «Bei uns herrschen keine nordkoreanischen Verhältnisse.»
Die Verbandsmeinung sei klar: Beim Abschluss eines Rahmenabkommens müssten die roten Linien des Bundesrats eingehalten werden – die Beibehaltung der flankierenden Massnahmen etwa. Zudem müsse ein allfälliges Schiedsgericht unabhängig sein.
Magdalena Martullo-Blocher und ihre Ems-Chemie liessen eine Anfrage zum Thema unbeantwortet. Allerdings machte Martullo bereits mehrfach klar, dass ihre Haltung in der Frage nicht von jener ihres Vaters abweicht: «Ein Rahmenvertrag, wie es die EU will und welcher den anderen Parteien vorschwebt, geht gar nicht», sagte sie vor rund zwei Wochen im «Bündner Tagblatt». Es könne nicht sein, dass die Schweiz künftig mit Ausgleichsmassnahmen gestraft werde, nur weil sie «eine eigene rechtliche Lösung» wolle.
Zu erwarten ist, das Martullo im Kampf gegen das Rahmenabkommen eine tragende Rolle spielen wird. Sie ist nicht nur Wirtschaftsverantwortliche der Partei, sondern seit Samstag auch Vizepräsidentin der SVP.