Psychiater Frank Urbaniok könnte dem Fall Rupperswil eine neue Wende verpassen. Am Donnerstag wird dieser vor der zweiten Instanz, dem Aargauer Obergericht, verhandelt. Kurz vor Prozessbeginn präsentierte Urbaniok neue Argumente.
In einem Interview mit der «Aargauer Zeitung» legte er dar, weshalb die beiden aufgebotenen Gutachter einen zentralen Punkt falsch eingeschätzt haben sollen. Gemäss Urbaniok könne man aufgrund der Diagnosen nicht sagen, Vierfachmörder Thomas N. sei therapierbar. Denn seine Tat lasse sich mit der Persönlichkeitsstörung nicht erklären.
Diese Aussage ist brisant, weil sie eine der politisch und juristisch umstrittensten Massnahmen der Schweiz ermöglichen würde: eine lebenslängliche Verwahrung.
Die Online-Kommentare auf Urbanioks Interview fallen mehrheitlich positiv aus. Doch in der Fachwelt sorgt es für Empörung. Marianne Heer, Strafrechtsprofessorin und Luzerner Oberrichterin, bezeichnet sein Vorgehen als «unhaltbar»: «Herr Urbaniok übernimmt hier die Rolle eines Obergutachters, ohne die Akten zu kennen und ein entsprechendes Mandat zu haben.»
Urbaniok plädiert schon seit zwanzig Jahren dafür, dass die gängigen psychiatrischen Diagnosesysteme nicht geeignet seien, die Gefährlichkeit eines Täters einzuschätzen. An einer Tagung im September vertrat Bernd Borchard vom Zürcher Amt für Justizvollzug diesen Standpunkt. Borchard hatte früher mit Urbaniok zusammengearbeitet.
Die Psychiater Marc Graf und Elmar Habermeyer hätten sich dieser Haltung nicht angeschlossen, berichtet Heer, welche die Tagung mitorganisiert hat. Habermeyer ist der Verfasser eines der zwei Gutachten im Fall Rupperswil. Heer sagt: «Urbaniok vertritt eine Meinung, die von den Psychiatern ausserhalb seines Umfelds nicht geteilt wird.»
Besonders übel nimmt Juristin Heer dem Psychiater, dass er sich auch juristisch geäussert hat. Er kritisierte, dass der Volksentscheid zur Verwahrungsinitiative nicht umgesetzt würde. Dazu sagt Heer: «Frank Urbaniok missbraucht seine Autorität als anerkannter Psychiater, um politische und juristische Aussagen zu machen, zu denen er nicht kompetent ist.»
In ihrem eigenen Berufsalltag stellt Heer fest, dass Richter unter einem extremen öffentlichen Druck stünden. Dieser nehme massiv zu: «Das ist eine ungesunde Entwicklung, die man nicht fördern sollte, indem man sich kurz vor einem Prozess auf diese Weise einmischt.» Urbaniok würde die Rollenverteilung zwischen Justiz und Psychiatrie missachten: «Das ist ein Angriff auf die Unabhängigkeit der Justiz.» (aargauerzeitung.ch)