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Die spezielle Karriere von FDP-Präsident Philipp Müller

Philipp Müller: «Ich hoffe nicht, dass ich altersmilde werde.»
Philipp Müller: «Ich hoffe nicht, dass ich altersmilde werde.»
Bild: KEYSTONE

Vom «Strassenkämpfer» zum Konsenspolitiker: Die spezielle Karriere des Philipp Müller

Als Urheber der 18-Prozent-Initiative betrat Philipp Müller die politische Bühne. Damals war der Aargauer ein verbissener Einzelkämpfer am rechten Rand. Nun tritt er erhobenen Hauptes als FDP-Präsident zurück, respektiert selbst von den Linken.
15.04.2016, 15:2218.04.2016, 02:56
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Man konnte diesen Mann einfach nicht mögen.

Seine drahtige Erscheinung mit dem markanten Schnauz und seine rechthaberische, geradezu verbissene Art erzeugten instinktiv ein Gefühl der Abneigung. Dies galt erst recht für die 18-Prozent-Initiative, die der Bauunternehmer aus Reinach AG in den 1990er Jahren lanciert hatte, um den Ausländeranteil in der Schweiz auf eben diesen Wert zu begrenzen.

Philipp Müller war ein Freisinniger, aber mit diesem Gedankengut gehörte er eigentlich in die SVP, sagte man sich.

Die Initiative wurde im September 2000 mit mehr als 63 Prozent Nein abgelehnt. Bald 16 Jahre sind seither vergangen. Das Etikett des «18-Prozent-Müller» wird er nie mehr los, und doch hat sich vieles verändert. Der Schnauz ist weg, und der politische «Strassenkämpfer» von einst hat sich zu einer Persönlichkeit gewandelt, die selbst Politiker aus dem linksgrünen Lager respektieren.

Philipp Müller im Jahr 2000 vor seinem Haus in Reinach.
Philipp Müller im Jahr 2000 vor seinem Haus in Reinach.
Bild: KEYSTONE

Als er vor vier Jahren mangels Alternative das Präsidium der FDP Schweiz übernahm, runzelten viele die Stirn. Wenn er am Samstag in Bern das Amt an Petra Gössi übergibt, darf er mit einer stehenden Ovation rechnen. Was nicht nur daran liegt, dass die Partei unter seiner Führung nach Jahrzehnten im Jammertal zum Erfolg zurückgekehrt ist. Sondern auch an seiner Person.

Aus dem verbissenen Rechtsaussen-Einzelkämpfer ist ein Konsenspolitiker geworden.

Müller zuckt in seinem Bürostuhl zusammen. «Das hört sich an wie ein Abstieg!», ruft er und muss gleichzeitig lachen. Das ist typisch für den Philipp Müller von heute. Er kann immer noch heftig werden, aber er federt seine Äusserungen mit Humor ab: «Ich hätte mir nie träumen lassen, dass ich als Konsenspolitiker tituliert werde. Ich hoffe nicht, dass ich altersmilde werde.»

Entwicklung zum Pragmatiker

Müller ist 63 Jahre alt, aber immer noch voller Energie. Er bestreitet nicht, dass er sich verändert hat: «Meine Entwicklung verlief hin zum Pragmatismus.» Vor allem in gesellschaftspolitischen Fragen sei er viel liberaler geworden. Das lässt sich am Nationalratsrating der NZZ ablesen. In seinen Anfangsjahren im Bundeshaus stand in der FDP-Fraktion allenfalls Filippo Leutenegger rechts von ihm. Seither hat sich Philipp Müller zur Mitte bewegt. Sein Fast-Nachfolger Christian Wasserfallen und seine Sicher-Nachfolgerin Petra Gössi sind weiter rechts situiert.

Ausgangspunkt der 18-Prozent-Initiative war die EWR-Abstimmung 1992.
Ausgangspunkt der 18-Prozent-Initiative war die EWR-Abstimmung 1992.
Bild: KEYSTONE

Die 18-Prozent-Initiative, die sein Image geprägt hat, bereut er dennoch nicht. Ausführlich erzählt er, wie es dazu kam. Ausgangspunkt war die EWR-Abstimmung im Dezember 1992. Müller war zuvor in die FDP eingetreten, weil er den Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum befürwortete. Das Volk sagte Nein, in erster Linie aus Angst vor dem freien Personenverkehr.

Termin beim Bundesrat

«Ich machte mich schlau, was im Einwanderungsbereich geschieht, und stellte fest: Es kommen sehr viele, und zwar vor allem vom Balkan.» Dabei hatte das Parlament bereits 1991 eine Motion der Solothurner CVP-Ständerätin Rosmarie Simmen überwiesen, die eine Ausrichtung der Migrationspolitik auf die Europäische Gemeinschaft (EG) verlangte, die Vorläuferin der EU.

«Obwohl ich nur ein ‹kleines Würstchen› war, verlangte ich einen Termin bei Bundesrat Arnold Koller und erhielt ihn zu meinem Erstaunen nach 14 Tagen.» Der damalige Justizminister sagte dem gelernten Gipser aus dem Aargau, dass in der Schweiz Wirtschaft und Arbeitgeber die Ausländerpolitik machen. Sie stünden jeden Tag bei ihm auf der Matte und verlangten höhere Kontingente. «Ich fand das nicht richtig. Das Parlament hatte die Motion Simmen unterstützt, doch nach wie vor kamen vor allem Leute vom Balkan, weil sie billiger arbeiteten», sagt Müller.

Er fragte Koller, ob man nicht eine Initiative machen sollte. Der CVP-Bundesrat antwortete, dies sei ihm unbenommen. Also legte Philipp Müller los, einzig unterstützt von seiner damaligen Ehefrau. Sie stapelten die Unterschriftenbögen im Büro auf Gerüstböcken und erledigten alles selber, inklusive beglaubigen und kontrollieren: «So etwas macht man nur einmal im Leben.» Der Kraftakt gelang, die Initiative wurde mit 121'313 gültigen Unterschriften eingereicht.

Biedermann als Brandstifter?

Über Müllers Motive wurde heftig spekuliert. Der Vorwurf der Fremdenfeindlichkeit war omnipräsent, obwohl er bei seinen Auftritten rassistische Töne vermied und vorab mit Zahlen um sich warf. «Ein Biedermann als politisch korrekter Brandstifter», titelte die Wirtschaftszeitung «Cash» in einem Bericht über den Aargauer. Selbst seine Frau bezeichnete seine Haltung als «ambivalent».

In seinen Anfangsjahren stand höchstens Filippo Leutenegger (l.) in der FDP-Fraktion rechts von Müller.
In seinen Anfangsjahren stand höchstens Filippo Leutenegger (l.) in der FDP-Fraktion rechts von Müller.
Bild: KEYSTONE

«Ich bin mit Ausländern aufgewachsen, vor allem mit Italienern», erwidert Müller. Sein Vater besass ein Gipsereigeschäft, doch das Geld war knapp, die Familie lebte in einer Mietwohnung. Seine Mutter hütete für fünf Franken pro Tag Ausländerkinder, zeitweise rund ein Dutzend. Philipp Müller hatte ebenfalls Gipser gelernt und strebte eine Karriere als Autorennfahrer an. Mit 22 Jahren musste er das väterliche Geschäft übernehmen, das mit 200'000 Franken verschuldet war: «Mein Vater war von seinem Kompagnon über den Tisch gezogen worden.»

Er trug die Schulden ab und machte aus dem Geschäft ein florierendes Generalbauunternehmen, das auf Gebäudesanierungen spezialisiert ist. Auch auf dem Bau hatte er viel mit Ausländern zu tun, und der Motorsport führte ihn immer wieder ins Ausland. «Auf der anderen Seite aber sah ich, dass es mit der Einwanderung nicht gut kommt. Auch heute noch kommt weniger als die Hälfte, um zu arbeiten.» Bereits 2008, sechs Jahre vor der Abstimmung über die Masseneinwanderungs-Initiative, habe er im Parlament gewarnt, die Akzeptanz der Migrationspolitik gehe flöten.

Mit der 18-Prozent-Initiative war er gescheitert. «Ich habe nie geglaubt, dass ich gewinnen würde. Ich hatte auch kein Geld für einen Abstimmungskampf», sagt Müller. Dieser machte ihn aber national bekannt und verhalf ihm drei Jahre später auf der Liste der Aargauer FDP zur Wahl in den Nationalrat. Beim Begrüssungsapéro der FDP-Fraktion kam ich erstmals mit ihm ins Gespräch. Und stellte fest, dass der vermeintliche Fremdenfeind durchaus vernünftig argumentierte.

Der Asyl-Hardliner

So regte er sich unglaublich darüber auf, dass er bei seinen Auftritten ausgiebig über Migration dozierte und am Ende stets nur gefragt wurde: «Was ist mit der Asylpolitik?» Dabei entfielen damals nur 2,5 bis drei Prozent der gesamten Einwanderung auf diesen Bereich, doch «er ist eine hoch emotionale Angelegenheit». Als Politiker wurde Müller selber zum Asyl-Hardliner. «Den klassischen Asylsuchenden gibt es kaum noch, es sind zumeist Kriegs- und Gewaltvertriebene. Unser System aber ist immer noch auf jene ausgerichtet, die politisch verfolgt werden.»

Die Asylpolitik von Simonetta Sommaruga beurteilt Müller skeptisch.
Die Asylpolitik von Simonetta Sommaruga beurteilt Müller skeptisch.
Bild: © Ruben Sprich / Reuters

Die Schweiz müsse ein System finden, in dem sie die Kriegsflüchtlinge aufnehme, so lange das Problem bestehe: «Wir können nicht Zehntausende pro Jahr integrieren.» Im Jugoslawienkrieg habe das funktioniert. Damals nahm die Schweiz bis 49'000 Asylsuchende pro Jahr auf, 10'000 mehr als 2015. «Die Akzeptanz war hoch, weil die klare Botschaft des Bundesrats lautete, sie müssten wieder gehen.»

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Müller macht keinen Hehl daraus, dass er die Politik von Justizministerin Simonetta Sommaruga skeptisch beurteilt. Trotzdem steht er hinter der Revision des Asylgesetzes, über die am 5. Juni abgestimmt wird. Er wird dabei gegen die SVP antreten: «Ich habe erwartet, dass sie sich um das Justizdepartement bemüht, über das sie ständig motzt. Resultat bekannt.»

«Zuwanderung nicht verkraftbar»

Eine zwiespältige Haltung gegenüber der Zuwanderung vertritt der einstige «18-Prozent-Müller» noch heute, wo der Ausländeranteil 25 Prozent beträgt: «Wir verkraften keine jährliche Nettozuwanderung im Umfang der Städte St.Gallen oder gar Winterthur. Das Schweizer Mittelland gehört zu den zehn am dichtesten besiedelten Gebieten der Welt mit mehr als 500 Personen pro Quadratkilometer. Stadtstaaten wie Hongkong und Singapur ausgenommen.»

Ökonomisch sei die Einwanderung aus der EU am sinnvollsten. Hinzu komme der humanitäre Bereich, man könne einen Teil des Familiennachzugs nicht verbieten. «Aber es gibt immer noch eine happige Einwanderung, bei der man sich Fragen stellen kann.» Der grösste Teil der Einwanderung Erwerbstätiger entfalle auf das Bau- und das Gastgewerbe, wo auch die Arbeitslosenquote am höchsten sei. Die Lösung ist für ihn ein selektiver Inländervorrang, den er auch zur Lösung des Zuwanderungskonflikts mit der EU postuliert.

Mit seinen migrationspolitischen Positionen war Philipp Müller in der FDP lange ein Aussenseiter. Bei der Wahl zum Präsidenten 2012 – als erster Nicht-Akademiker überhaupt – erwies sich dies als Glücksfall. Der Aargauer gehörte nie zum berüchtigten FDP-Filz, dem alle möglichen Schandtaten angelastet werden, allen voran der Untergang des Nationalstolzes Swissair. Und er trauerte nicht der einstigen freisinnigen Grösse hinterher, sondern impfte der Partei ein neues Selbstbewusstsein ein. Selbst die NZZ bescheinigte ihm, er habe «seine Sache gut gemacht».

«Wohlfühllärm des Guerillaparlaments»

Mit der Wahl in den Ständerat im letzten Herbst ist Philipp Müller definitiv in der Mitte der Schweizer Politiklandschaft angekommen. Der einstige Frontkämpfer gibt offen zu, dass er mit dem Wechsel in die kleine Kammer in der ersten Session Mühe bekundete, vor allem mit der fast schon andächtigen Ruhe im Saal. «Ich ging täglich in den Nationalratssaal, wo der Lärmpegel rund 75 Dezibel beträgt, und hörte mir den Wohlfühllärm des Guerillaparlaments an.»

Müller diskutiert mit den St.Galler Ständeräten Karin Keller-Sutter und Paul Rechsteiner. Anfangs hatte er Mühe mit der andächtigen Ruhe.
Müller diskutiert mit den St.Galler Ständeräten Karin Keller-Sutter und Paul Rechsteiner. Anfangs hatte er Mühe mit der andächtigen Ruhe.
Bild: KEYSTONE

Inzwischen hat er sich an die neue Rolle gewöhnt. «Im Ständerat kann man reden, wenn man etwas zu sagen hat. Und in den Kommissionen wird genauso hart gefightet wie im Nationalrat.» Wer Philipp Müller heute im Bundeshaus über den Weg läuft, hat das Gefühl, einen zufriedenen Menschen zu treffen. «Ich habe das Glück, dass ich praktisch immer guter Laune bin. Und ich lebe so gerne. Ich möchte 2000 Jahre leben, mit einer Verlängerungsmöglichkeit von weiteren 2000 Jahren.»

Couchepins folgenreicher Rat

Müller erzählt dazu eine Anekdote. Als er 2003 in den Nationalrat gewählt wurde, mimte er in der Fraktion anfangs weiterhin den Strassenkämpfer und nervte damit seine Kolleginnen und Kollegen. Eines Tages lud ihn Bundesrat Pascal Couchepin zum Mittagessen ein. Er habe nach dem Grund gefragt, worauf Couchepin ihm sagte: «Du hast Potenzial, kannst gut reden, auch auf Französisch. Aber du kannst viel mehr Erfolg haben, wenn du nicht so verbissen bist, lockerer wirst, mehr lächelst. Les Romands, ils aiment le sourire.»

Mit Couchepin verstand er sich von da an prächtig, und heute hat Philipp Müller immer einen flotten Spruch parat.

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