Neben Viren und Katastrophen dominierte 2021 ein weiteres Thema die Schlagzeilen: Das Geschlecht. In den sozialen Medien stritt man sich über Sinn und Unsinn des Gendersternchens und in den Zeitungen las man über die USA, die den ersten Reisepass mit der Angabe X für ein drittes Geschlecht ausstellten.
Den Geschlechtern und seiner Wahrnehmung in der Gesellschaft nahm sich auch eine neue Studie des Schweizer Forschungsinstituts sotomo an. Im Herbst wurden knapp 2700 Menschen in der Schweiz zum Thema Geschlecht und Identität befragt.
Ein paar Auswertungen der Studie vorweg: Dass es nur zwei Geschlechter gibt, nämlich Mann und Frau, das finden 18 Prozent aller Befragten der Studie. 20 Prozent ist der Meinung, dass es eine Vielzahl von Geschlechtsidentitäten gibt. Die Mehrheit (43%) gibt an, dass es «meist Frau und Mann mit wenigen Ausnahmen» gibt.
Die Befragten, für die es nur Frauen und Männer gibt, sehen kaum Gründe, warum man beispielsweise im Pass ein drittes Geschlecht einführen sollte. Wer hingegen weniger binäre Vorstellungen der Geschlechterordnung hat, zeigt sich eher bereit dafür, die heutigen Regelungen zu ändern. Mit 53 Prozent der Befragten ist gut die Hälfte aber dafür, dass es bei amtlichen Dokumenten ein drittes Geschlecht geben sollte.
Auch bei der Frage nach den Gründen für Verhaltensunterschiede von Frauen und Männer ist man sich nicht einer Meinung. 38 Prozent der Befragten sind der Meinung, dass sowohl die biologischen als auch gesellschaftlichen Faktoren gleich viel Einfluss haben. 17 Prozent ist der Meinung, dass die Verhaltensunterschiede nur auf die Biologie zurückzuführen sind, genau gleich viele finden, dass nur die Gesellschaft dafür sorgt.
Ziemlich am Anfang der Studie mussten die Studienteilnehmenden beantworten, wie wichtig ihnen das eigene Geschlecht ist.
Für 55 Prozent der Befragten ist die Geschlechtszugehörigkeit «eher» oder «sehr wichtig». Zwischen den Geschlechtern gibt es aber einige Unterschiede: Wer sich als Frau definiert, dem ist es auch wichtiger eine Frau zu sein, als das «Mannsein» für Männer. Oder anders gesagt: 60 Prozent der weiblichen Befragten geben an, dass ihr Geschlecht ein wichtiger Teil ihrer Identität ist. Bei den Männern sind es nur 49 Prozent.
«Erklären lässt sich dies damit, dass Männer nach wie vor in vielen Bereichen normbestimmend sind», schreiben die Studienautorinnen dazu. Weil für Männer vieles selbstverständlich sei, würden sie die eigenen Möglichkeiten und vor allem Begrenzungen nicht mit ihrem Geschlecht in Verbindung setzen.
Schaut man aber auf die politische Orientierung der Studienteilnehmenden, die ebenfalls abgefragt wurde, zeigt sich ein anderes Bild. Denn plötzlich fallen die Männer auf: So ist das eigene Geschlecht für politisch rechts stehende Männer wichtig. 40 Prozent gaben an, dass ihnen das Mannsein sogar «sehr wichtig» sei.
Demgegenüber stehen die politisch linksorientierten Männer. Nur 12 Prozent gab an, dass ihnen das Mannsein «sehr wichtig» sei.
«Dieser markante Links-Rechts-Gegensatz zeigt eine Politisierung des Mannseins, wie es sie beim weiblichen Gegenüber nicht gibt», schreiben die Studienautoren dazu. Und tatsächlich: Egal ob die weiblichen Befragten politisch links oder rechts sind, das Frausein ist für beide ungefähr gleich wichtig.
Ebenfalls gefragt wurden die Studienteilnehmenden, ob sie sich als Frau oder Mann bezeichnen. 99,6 Prozent ordnen sich ins binäre Schema ein. Nur gerade 0,4 Prozent bezeichnet sich als explizit nicht binär.
Doch damit ist noch nicht alles gesagt. Denn sobald die Studienautoren nicht einfach nur von Mann und Frau, sondern von männlichen und weiblichen Eigenschaften sprachen, zeigte sich ein weniger schwarz-weisses Bild.
Nur 14 Prozent der Männer schätzen sich als ausschliesslich männlich, nur 6 Prozent der Frauen als ausschliesslich weiblich ein. Und weitere 5 Prozent sehen sich subjektiv der jeweils anderen Geschlechteridentität näher als dem eigenen Geschlecht.
Die Studienautoren schreiben dazu folgendes:
Ob man sich selbst als weiblich oder männlich wahrnimmt, hängt unter anderem von der eigenen sexuellen Orientierung ab, schreiben die Studienautorinnen. Heterosexuelle Männer und Frauen ordnen sich mehr männliche bzw. weibliche Eigenschaften zu. Anders bei Nicht-Heteros: Besonders nicht-heterosexuelle Frauen gaben an, dass bei ihnen die weiblichen und männlichen Eigenschaften ausgeglichen seien.
Ein weiterer Faktor, der offenbar die eigene Geschlechts-Wahrnehmung beeinflusst, ist die Erwerbstätigkeit. Männer, die Teilzeit arbeiten, nehmen sich selbst als deutlich weiblicher wahr als Männer, die Vollzeit arbeiten.
Bei den Frauen konnte keinerlei Zusammenhang zwischen der Erwerbsteilung und ihrer Weiblichkeit festgestellt werden. «Dies zeigt, dass Vollzeiterwerbstätigkeit bei Männern heute noch viel stärker mit Männlichkeit verbunden wird als das Zuhause-bleiben bei Frauen mit Weiblichkeit», schliessen die Studienautoren daraus.
Ebenfalls thematisiert wurde in der Studie das Geschlecht und die Sprache. Nur noch 27 Prozent der Befragten verwenden das generische Maskulin (also bspw. Leser, Lehrer, Polizist) und meinen damit auch Frauen. Am häufigsten verwenden die Befragten Doppelnennungen, schreiben also von «Leserinnen und Leser».
Wenig bis kaum gebraucht werden Formen, die explizit auch nicht-binäre Personen miteinbeziehen, also beispielsweise «Lesende», «Leser*innen» oder «Leser:innen».
Auch hier gibt es innerhalb der Geschlechter deutliche Unterschiede: So schreiben 36 Prozent der Männer von «Lesern», während es bei den Frauen nur 19 Prozent tun. Umgekehrt schreiben 23 Prozent der Frauen «Lesende» während dies bei den Männern nur 15 Prozent tun.
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