Serra kam als kleines Mädchen mit ihrer Mutter aus der Türkei in die Schweiz. Sie lernte schnell Deutsch und glänzte in der Schule in Hergiswil NW mit guten Noten. Es hätte eine gelungene Integrationsgeschichte werden können. Doch gemäss der türkischen Staatsanwaltschaft hatte ihre Mutter andere Pläne. Sie soll ihre zehnjährige Tochter dem türkischen Sektenführer Adnan Oktar zur Heirat versprochen haben. Das Motiv: Geld. Sie soll sich selber ein Leben in Luxus erhofft haben.
Zum Glück schritt die Kindesschutzbehörde von Nidwalden ein und ordnete eine Fremdplatzierung an. So konnte sie die Zwangsheirat verhindern. Doch dieses Jahr passierte der Behörde ein folgenreicher Fehler. Sie gab einem Anwalt aus Zürich, der von einer Anwältin der Sekte beauftragt worden war, sämtliche Akten zum Fall heraus.
Die «Schweiz am Wochenende» hat den Vorgang publik gemacht, was in der Türkei auf grosses Interesse stiess. Die staatliche Nachrichtenagentur AA verbreitete die Meldung im ganzen Land. Denn die Akten spielten diese Woche vor Gericht eine wichtige Rolle.
In Istanbul müssen sich derzeit über 200 mutmassliche Mitglieder der kriminellen Organisation in einem Gerichtssaal eines Gefängnisses erklären. Darunter befindet sich Serras Mutter.
Die Anwältin der Sekte organisierte die Unterlagen aus Nidwalden, um Serras Glaubwürdigkeit anzugreifen. Die Anwältin ist jedoch mutmasslich selber eine Kriminelle. Sie wurde kürzlich von der türkischen Polizei verhaftet, weil sie dem Sektenführer geholfen haben soll, seine Gang aus dem Gefängnis heraus zu steuern. Sie soll Klägerinnen eingeschüchtert und bedroht haben. Zudem hat sie ein doppeltes Spiel aufgebaut. Sie hat im Namen der Mutter die Kesb-Akten beschafft, obwohl sie als Anwältin eigentlich nicht mehrere Parteien vertreten darf.
Serras Mutter stritt diese Woche vor Gericht nun alles ab. Tief blicken lassen ihre persönlichen Worte. Sie sagte: «Ich vermisse meine Tochter sehr. Denn sie ist so ein schönes Mädchen.» Sie tickt offenbar wie der Sektenführer, der sich nur für das Aussehen des Mädchens aus Hergiswil interessierte.
Die Richter liessen diese Woche Kindheitsbilder an eine Wand im Gericht projizieren. Es waren die Bilder, die schon in den Medien zu sehen waren – und ein neues. Serra ist darauf mit neun Jahren zu sehen – umringt von Sektenmitgliedern in der Villa von Adnan Oktar. Das Bild beweist, dass sie mehr als nur zwei Mal dort war, wie die Sekte behauptet. Es zeigt auch, wie verzweifelt die Mutter ihre kleine Tochter stylte. Sie schminkte sie nicht nur wie eine junge Erwachsene. Sie liess sie auch ein Oberteil mit Brustimplantaten tragen, die den Eindruck erwecken, die Neunjährige hätte bereits einen Busen. Dass ihre Brust noch ganz flach war, passte dem Sektenführer gar nicht.
Ein Richter fragte die Mutter, ob sie dieses Outfit normal finde. Sie behauptete darauf: «In der Schweiz ziehen sich alle Kinder so an.» Um dies zu beweisen, präsentierte sie eine Aufnahme von Serra aus der Schweiz. Sie verschwieg dabei allerdings, dass sich die Tochter auf dem Bild für Halloween speziell gekleidet hatte.
In diesem Stil verwendet der Anwalt der Mutter vor Gericht auch die Kesb-Akten aus Nidwalden. 99 Prozent davon kann die Sekte nicht verwenden, weil dieses Material nicht die Tochter, sondern die Mutter belastet. Die Sekte versucht das eine Prozent herauszupicken, das Serra schlecht dastehen lässt. Zum Beispiel eine Aktennotiz zu einem Vorfall in Hergiswil mit zehn Jahren: Da soll sie einem Kind absichtlich die Hand in einer Türe eingeklemmt haben, sodass dieses verarztet werden musste. Die Mutter will damit sagen, nicht sie, sondern ihre Tochter sei krank.
Serra kämpft mit den Tränen, als sie davon erzählt: «Wie kann die eigene Mutter so über mich reden?» In den nächsten Wochen wird sie als Zeugin selber vor Gericht aussagen. (aargauerzeitung.ch)