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7 Irrtümer über den weissen Tod und eine Empfehlung, die wir uns zu Herzen nehmen sollten

Lawinenniedergang bei Anzères (2009). 
Lawinenniedergang bei Anzères (2009). Bild: KEYSTONE
Airbag, LSV, Schaufel, Sonde – alles klar?

7 Irrtümer über den weissen Tod und eine Empfehlung, die wir uns zu Herzen nehmen sollten

Das Lawinenunglück am Vilan mit fünf Toten sitzt vielen noch tief in den Knochen. Es stellen sich viele Fragen: Hat sich die Tourengruppe falsch verhalten? Hätten die Skifahrer mit Airbags ausgerüstet sein müssen? Und wer ist gefährlicher, Tourengeher oder Freerider?
07.02.2015, 06:4307.02.2015, 09:26
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Wir räumen mit ein paar falschen Vorstellungen zu Lawinen und Lawinenunfällen auf:

Junge Freerider ohne Erfahrung gefährden sich selbst und andere übermässig

Die Fakten sprechen ganz klar gegen diese Behauptung. Das zeigen Zahlen des Bundesamtes für Unfallverhütung, BfU.

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screenshot: bfu

Auch für Peter Plattner, Bergführer und Chefredaktor von bergundsteigen, einer Zeitschrift für Risikomanagement im Bergsport, ist klar: «Die jungen, wilden Freerider kommen unterdurchschnittlich oft in die Lawinen. In Lawinen sterben vor allem erfahrene, männliche Skitouristen.» 

Gemäss Plattner sammeln viele junge Freerider in kurzer Zeit viel Erfahrung und wenden diese auf ihren Touren regelmässig an. Sie sind oft in kleinen Gruppen unterwegs und müssen oft selbständig Entscheidungen treffen. «Tourengeher können von Freeridern viel lernen», ergänzt Plattner.

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Je weniger Schnee liegt, desto kleiner ist die Gefahr für Lawinenabgänge

Schön wär's! Doch leider nein. «Das ist die unschöne Seite an der Geschichte: Der Winter entscheidet mit», sagt Plattner. In schneearmen Wintern und vor allem am Übergang von viel zu wenig Schnee werden Lawinen leichter von einem Skifahrer ausgelöst. Der Grund: Die Schneedecke ist in solchen Wintern oft viel schlechter aufgebaut als in Wintern mit kontinuierlichem, regelmässigem Schneefall. Es können mehr Schwachschichten vorhanden und / oder weiter oben eingelagert sein.

Warnstufe 3 – «erheblich» – ist die mittlere Warnstufe und bedeutet mittlere Gefahr

Die meisten tödlichen Lawinenunglücke ereignen sich tatsächlich bei Gefahrenstufe 3, also bei «erheblicher Gefahr». 

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Wichtig ist: Die Stufe 3 – erhebliche Lawinengefahr – befindet sich zwar in der Mitte der Skala, sie ist aber nicht die «mittlere Stufe», wie oft irrtümlich geglaubt wird. Die Skala ist nicht linear, sondern exponentiell, d. h., die Gefahr verdoppelt sich von Stufe zu Stufe. Bei «erheblich» sollten deshalb nur Leute unterwegs sein, die die nötige Erfahrung haben, um eine sichere Spur zu legen. «Man muss halt bereit sein, auf die steilsten (‹geilsten›) Hänge zu verzichten!», sagt der Schweizer Lawinenspezialist Werner Munter.

Es gibt immer mehr Leute, die ohne Ausbildung im freien Gelände fahren

Ja und nein. Es gibt tatsächlich immer mehr Leute, die sich ins freie Gelände begeben. Die Zahlen sind allerdings sehr diffus. Für Österreich geht man davon aus, dass es inzwischen 300'000 bis 700'000 pro Saison sind.

Sicher ist: Dank den breiten Freeride-Latten und den Snowboards ist das Tiefschneefahren viel einfacher geworden. «Man geht heute schneller und weniger vorbereitet ins Gelände», glaubt auch Peter Plattner. Doch: «Obwohl mehr Leute im Gelände unterwegs sind, hat die Zahl der Lawinentoten in den letzten Jahren nicht zugenommen», sagt er.

Das kann damit zusammenhängen, dass viele der Geländefahrer mit Experten wie Berg- oder Skiführern unterwegs sind. Dafür spricht zumindest die Tatsache, dass Leute in Gruppen weniger oft von Lawinen verschüttet werden als Zweiergruppen, wie eine Umfrage aus dem Jahr 2012 zeigt.

Anteil der Todesopfer bei Lawinenunfällen

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bild: screenshot bergundsteigen

Gruppengrösse bei Lawinenunfällen (1970/71 bis 2009/10)

Am meisten von Lawinen betroffen waren Zweier- und Dreiergruppen.
Am meisten von Lawinen betroffen waren Zweier- und Dreiergruppen.bild: screenshot bergundsteigen

Wo bereits Spuren sind, kann man sicher fahren

Für viele unerfahrene Freerider scheint diese Regel leider zu gelten. Sie ist jedoch kreuzfalsch. Die Psychologie spielt dabei aber eine grosse Rolle, wie Peter Plattner weiss: «Ich staune oft, wie selbst geschulte Leute, die in der Ausbildung sind, plötzlich anders entscheiden, wenn sie einzelne Spuren in einem Hang sehen.» Viele Risiken würden plötzlich ausser Acht gelassen, wenn Spuren im Hang zu sehen seien. Davor sind übrigens nicht nur Freerider, sondern auch Tourengeher nicht gefeit.

Deshalb gilt: Spuren hin oder her: Eine Risikobeurteilung (Gefahrenstufe, Geländefallen etc.) muss in jedem Fall vorgenommen werden.

Ein Airbag vermindert das Risiko, in eine Lawine zu kommen

Nein. Das Lawinen-Airbag-System verringert lediglich die Chance, in einer Lawine ganz oder teilweise verschüttet zu werden. Das Schweizerische Lawinenforschungsinstitut (SLF) empfiehlt den Airbag, er gehört jedoch – anders als Lawinenverschüttetensuchgerät (LVS), Schaufel und Sonde – nicht zur Standardausrüstung. 

Eine Studie hat gezeigt, dass der Lawinen-Airbag ein sehr wirksames Notfallgerät ist. Bei den untersuchten Lawinenopfern reduzierte sich die Sterblichkeit mit einem aufgeblasenen Airbag um die Hälfte von 22 auf 11 Prozent. «Das Fazit ist also, dass 11 zusätzliche Personen (von 100) dank des Airbags überlebt haben», schreibt das SLF

Viele Experten stehen dem Airbag aber kritisch gegenüber. Einer von ihnen ist Bergführer und Sportpsychologe Tobias Bach: «Verantwortung übernehmen heisst, im Notfall die Kameraden mit Pieps, Sonde und Schaufel zu retten», sagt er. Mit dem Airbag wähnten sich viele bereits in Sicherheit, ohne die Grundregeln der Lawinenrettung zu üben. «Das ist eine ‹Vollkasko-Mentalität›, bei der jeder nur noch an sich selber denkt», kritisiert er.

Wenn du einmal in einer Lawine bist, kannst du nichts mehr machen

Ja und nein: «Einmal von einer Lawine erfasst zu werden, bedeutet eine absolut lebensbedrohliche Situation mit ungewissem Ausgang – man ist Passagier» sagt Peter Plattner.

Aber: Es gilt, sich mit allen Mitteln zu wehren! Gemäss einem Artikel in der Fachzeitschrift bergundsteigen sollte man nach einer Lawinenauslösung versuchen, folgende Punkte umzusetzen – nach dem Motto: «Nicht aufgeben!»:

  • Schussflucht! So rasch als möglich aus der Lawine ausfahren.
  • Airbag auslösen! AvaLung zwischen die Zähne nehmen! Um das LVS-Gerät einzuschalten, ist es allerdings jetzt definitiv zu spät ...
  • Festhalten! An Bäumen, Sträuchern oder Felsen. Vor allem zu Beginn kann dies durchaus gelingen.
  • Oben bleiben! Alles Mögliche unternehmen, um oben zu bleiben und sich gegen den «Absturz» wehren.
  • Atemhöhle schaffen! Die Atemwege (v. a. den Mund) von Schnee befreien: Fäuste vors Gesicht ziehen, in den Handschuh oder den Anorak beissen oder den Mund in die Armbeuge pressen.
  • Rettungsversuch unternehmen! Nach Stillstand der Lawine sollte man rasch versuchen, sich aus den Schneemassen zu befreien. Achtung: Gelingt die Befreiung beim ersten Mal nicht, heisst es, die Kräfte zu schonen und zu versuchen ruhig zu bleiben.
  • An Rettung glauben! Da man ja nur mit Kollegen und Freunden unterwegs ist (sein sollte), die gut ausgerüstet sind und die Massnahmen einer raschen Kameradenrettung beherrschen, ist es in der Regel nur eine Frage von wenigen Minuten, bis man ausgegraben ist.

Empfehlung: Klarere Warnschilder – mehr Eigenverantwortung

Bis hierhin und nicht weiter – ausser du bist dir der Gefahren bewusst: Schild im Taucherparadies Ginnie Springs Resort in Florida.
Bis hierhin und nicht weiter – ausser du bist dir der Gefahren bewusst: Schild im Taucherparadies Ginnie Springs Resort in Florida.bild: taucher.net

Der Aufwand, den Unfallverhütungsstellen wie die SUVA für Skifahrer im freien Gelände betreiben, ist tatsächlich viel grösser als derjenige für das Sommerbergsteigen. Und doch sagt Peter Plattner: «Die Warnhinweise, dass man sich im Tiefschneegelände in ungesichertem Gebiet aufhält, sind oft zu wenig deutlich.»

Im Zusammenhang mit Schnee werde immer nur mit schönen Bildern, mit Pulverschnee und Sonne gearbeitet. «Die Warnschilder hingegen sind zu klein, zu wenig auffällig und sie sprechen niemanden an.» 

Plattners Vorschlag: Warnschilder, welche die Konsequenzen des Handelns deutlicher aufzeigen. «Beim Höhlentauchen, einer anderen Risikosportart, wird bei jedem Eingang zu einer Höhle mit einem Sensenmannschild und eindeutigen Sätzen klargestellt, dass sich Taucher nur in die Höhle begeben sollte, wenn sie sich des Risikos bewusst und entsprechend ausgebildet sind. So etwas sollte es in letzter Konsequenz in den Bergen auch geben.»

Denn für Plattner ist klar, was es für jeden Einzelnen bedeuten muss, als Freerider oder Tourenskifahrer unterwegs zu sein:

«Wer auf keinen Fall in einer Lawine sterben möchte, soll nicht im ungesicherten Gelände Ski oder Snowboard fahren.»

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