Calvin Whatison
Wer liebt, hat die Welt besiegt und fürchtet nichts mehr. (Paulo Coelho). 👍🏻
Is everybody on the floor? Hyper, Hyper!
Die Musik von Scooter erfüllt Stefan Langes kleines, stickiges Zimmer. Es riecht nach Schweiss, Urin und Zigaretten. Die Tabletten drückt Stefan im Takt des nervösen Technobeats aus der Packung. Zehn, zwanzig, vierzig – bis die kleinen grünen Pillen alle vor ihm auf dem Tisch verstreut liegen.
Stefan tanzt im Wahn. Die Musik von H.P. Baxxter versetzt ihn in Trance, Gänsehaut überzieht seinen Körper. Mit billigem Dosenbier spült er die Tabletten runter, eine nach der anderen. Bis er endlich nichts mehr spürt. Es ist Heiligabend im Jahr 1994.
Stefan hat überlebt. Heute kämpft er dafür, anderen aus der Krise zu helfen. Er ist glücklicher denn je. In seinem autobiografischen Roman «Suicide – Drei Monate und ein Tag» schreibt er über den Kampf gegen sich selbst. Er hält Vorträge, Lesungen und bestreitet TV-Auftritte zum Thema Suizid und Depression. Er versucht aufzuzeigen, wie man eine schwere, depressive und persönliche Krise besiegen kann. Seine Botschaft ist klar: Es gibt Hoffnung. Immer.
In der Schweiz nehmen sich durchschnittlich drei Personen pro Tag das Leben. Weltweit sind es jährlich 800.000 Menschen. Aus diesem Grund wurde 2003 der 10. September als Welt-Suizidpräventionstag von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und der International Association for Suicide Prevention (IASP) ausgerufen.
Nebst vielen anderen Faktoren beeinflusst auch die Berichterstattung in den Medien die Suizidrate. Wenn die Darstellung eines Suizides sensationsorientiert oder im Detail beschrieben wird, besteht die Gefahr eines Nachahmungseffekts, man spricht vom sogenannten «Werther-Effekt».
Durch umsichtige Berichterstattung kann dem aber entgegengewirkt werden. Aktuelle Studien sprechen vom sogenannten «Papageno-Effekt». Papageno wird in Mozarts Oper «Die Zauberflöte» von drei Knaben davon abgehalten, sich das Leben zu nehmen. Mediale Berichte über Suizid sollen ähnlich funktionieren. Wenn die Berichterstattung nicht auf den Suizid fokussiert, sondern auf die Person, die die Krise bewältigt hat, kann das helfen. Einer wissenschaftlichen Studie der Universität Wien zufolge verkleinert sich dadurch sogar die Suizidrate.
Stefan Lange hat zwei Geburtstage. Sein erster steht im Pass. Der zweite ist der 27. Januar 1972. Der Tag, an dem sein Vater starb. Der Vater war Offizier – streng, dominant und immer sehr distanziert. Für Stefan und seinen Bruder gab es immer einen Grund, sich schuldig zu fühlen. Wer schuldig war, wurde mit Vaters Gürtel verprügelt. Eine Kindheit geprägt von Gewalt – physischer und psychischer. Wobei die körperlichen Schmerzen irgendwann vergingen. Was blieb, war ein fehlendes Selbstwertgefühl und die ewige Sehnsucht nach Liebe, Geborgenheit und Wertschätzung.
Der Tod des Vaters war für Stefan eine Befreiung. Endlich war er weg. Das Schlimmste ist vorbei, er kann dir nichts mehr tun, dachte sich Stefan. Fortan wuchs er ohne Vaterfigur auf. Doch ein dumpfer Schmerz blieb, auch mit dem Ableben des Vaters. Stefan betäubte ihn mit viel Alkohol. Saufen bis zum Umkippen war in seinen Jugendjahren Tagesprogramm. Dann als Student schien es, als hätte er die dunklen Jahre endlich hinter sich gebracht. Stefan war ein aufgeweckter, interessierter Wirtschaftsstudent. Als smarten Typen würden ihn seine damaligen Freunde beschreiben – immer für ein Schwätzchen zu haben. Alles schien in Ordnung zu sein. Bis eine Begegnung die alten Wunden wieder aufriss.
Es war der 2. Mai 1994. Der Tag, an dem Stefan der Schweizerin Susanne begegnete. Es war ein schöner Tag in der spanischen Stadt Sevilla. Nach Andalusien verschlug es Stefan, weil er dort Spanisch lernen wollte. Mit Susanne lernte er nicht nur Spanisch, sondern auch zu lieben. Sie kam ihm sehr nah – zu nah. Susanne spürte Stefans Widerwillen, sich zu öffnen.
Vertrau mir, ich werde dich nicht enttäuschen, versprach sie ihm. Es folgten drei intensive Monate. Susanne war wie eine Droge. Die Liebe zu dieser Frau würde ihn endlich heilen, da war sich Stefan sicher. Mit Susanne an seiner Seite würde ihm nichts und niemand mehr etwas anhaben können. Doch die Beziehung zerbrach. Susanne verliess ihn, der Druck war ihr zu gross, das Zusammensein zu toxisch.
Stefans Seele stand in Flammen. Sein Schmerz kannte keine Grenzen. Susanne hatte ihn verlassen. Sie war die Einzige, die seine Schutzmauer durchbrechen konnte. Die Einzige, mit der er dieses – sein Leben – überlebt hätte. Und jetzt war sie weg. Stefans alte Wunden waren aufgerissen – und sie bluteten stärker denn je.
Sein Kummer kannte keine Grenzen. Und so fasste Stefan einen Entschluss. Mit seinen 29 Jahren würde er seinem Leben ein Ende bereiten. Er würde endlich überlegen sein, schlauer als das Leben selbst.
Am 19. Oktober 1994 suchte sich Stefan mit seinem Auto einen passenden Platz im Wald. Die eingelegte CD spielte immer und immer wieder das gleiche Lied: Streets of Philadelphia von Bruce Springsteen. Susanne und Stefans Lied. Im Auto sitzend löffelte Stefan ein grosses Erdbeerjoghurt leer. Darin befindet sich – so Stefans Hoffnung – ein tödlicher Tablettenmix. Löffel um Löffel wollte er seinem Leiden ein Ende setzen.
Viele Stunden später erwachte Stefan in einer Ausnüchterungszelle. Er hatte es im Tablettendelirium geschafft, seinen Zündschlüssel zu betätigen und war mit seinem Auto aus dem Wald herausgefahren in einen Strassengraben. Kurze Zeit später griff ihn die Polizei auf und nahm ihn mit auf den Posten. Doch die Behörden liessen ihn frei, sobald er wieder ansprechbar war.
Es folgten schlimme Monate voller Alkohol und Tabletten. Stefan hatte den absoluten Tiefpunkt erreicht. Die Wahrheit war unerträglich. Er hatte es nicht geschafft. Doch er brachte auch nicht die Energie für einen zweiten Suizidversuch auf. Eingesperrt in seinem Zimmer siechte er vor sich hin. Weihnachten, Silvester, Freunde: Sie kamen und gingen. Auch der verhängnisvolle Heiligabend 1994. Nichts konnte ihn jetzt noch retten, dachte er. Es war vorbei. Bis es zur zweiten, schicksalshaften Begegnung seines Lebens kam.
Anja entdeckte Stefan an einem der seltenen Tage, an denen er sein Zimmer verliess. Sie war eine alte Studienkollegin und hatte Stefan seit Monaten nicht mehr gesehen. Anja spürte sofort, dass etwas nicht stimmte. Ohne auch nur Hallo zu sagen, konfrontierte sie Stefan mit den Worten Dir geht’s nicht gut, stimmt’s? Stefan – völlig überrumpelt von dieser direkten Konfrontation – bejahte. Sie trafen sich noch am selben Abend in einer Kneipe. Drei Stunden lang sass Anja einfach nur da und hörte Stefan zu. Und Stefan erzählte und erzählte. Er fühlte sich das erste mal seit Monaten geborgen.
Stefans Inneres war ein Haufen Asche. Doch Anja entdeckte inmitten der schwarzen, verkohlten Masse ein bisschen Glut. Es war noch nicht vorbei. Kannst du mir versprechen, dass du in zwei Tagen wieder hier sitzt?, fragte Anja Stefan. Stefan konnte. Sie trafen sich wieder und wieder. Anja hörte stets zu, ohne zu werten, ohne eine abfällige Bemerkung zu machen. Sie liess ihn einfach Mensch sein. Mit kleinen, mündlichen Verträgen brachte sie Stefan dazu sich zu waschen, sich zu pflegen. Mach dich doch ein bisschen hübsch für das nächste Treffen, schlug sie Stefan vor. Stefan schaffte es, sich zu rasieren.
Nach zahlreichen Treffen stellte Anja Stefan ein Ultimatum: Entweder er sucht sich professionelle Hilfe, oder Anja würde sich nicht mehr mit ihm treffen. Die Forderung sass. Trotz Stefans grossem Misstrauen gegenüber Psychologen gab ihm Anja die Hoffnung zurück, dass er es mit professioneller Hilfe schaffen könnte.
Stefans Therapeut nahm kein Blatt vor den Mund. Mit den Worten Links geht’s in die Klapsmühle, rechts zum Friedhof erklärte er Stefans Situation in der ersten Sitzung. Er sei so verbohrt, so voller destruktiver Energie, dass er sich nur selbst retten könne. Und er müsse vor allem eines: selbst wollen. Die klare Ansage nützte. Der Therapeut forderte Stefan auf, seine Leidensgeschichte niederzuschreiben. Stefan tat, wie ihm geheissen. Plötzlich konnte er nicht mehr aufhören zu schreiben. Es war, als würde er sich den Schmerz von der Seele schreiben. Die Dammmauer war gebrochen. Er tat es Tage und Nächte lang: Essen, Trinken, Schlafen, Schreiben – bis er fähig war, das Erlebte aus der Distanz zu betrachten.
Zahlreiche Therapiesitzungen und Monate später führte Stefan eine neue Arbeitsstelle nach St.Moritz. An einem schönen Sommertag war er mit dem Fahrrad oberhalb des Städtchens unterwegs. Da kam es zu dem Moment, auf den auch Stefans Therapeut lange gewartet hatte: Er konnte seinen Gefühlen endlich freien Lauf lassen. Stefan war froh, noch am Leben zu sein. Er genoss die Natur, die schöne Bergwelt. Tränen rannen über seine Wangen. Weinkrämpfe schüttelten ihn. Doch er war glücklich. Er hatte es geschafft, sein eigenes Leben wieder in den Griff zu bekommen. Er konnte endlich wieder sich selbst sein.
Stefan Lange wurde 1965 in Deutschland geboren. 1994 überlebte er einen Suizidversuch. Nach jahrelangem Leiden brach er sein Schweigen und schrieb seine Geschichte nieder. Daraus entstand die autobiographische Erzählung «Suicide – Drei Monate und ein Tag».
Auf YouTube dokumentierte er in der 63-teilige Serie «Komm, lieber Tod» seine Geschichte. Heute setzt sich Stefan für die Enttabuisierung von Suiziden ein, hält Vorträge und Lesungen.