Es war ein durch und durch demokratischer Entscheid. Und doch beschlich Urs Huber ein mulmiges Gefühl. Was an jenem Abend in Obergösgen (SO) geschah, kratzte an seinem Demokratieverständnis.
Huber, 59, ist ein Mann, der ziemlich genau weiss, wie die Demokratie im Kleinen funktionieren müsste. Er ist eine Art Prototyp des Schweizer Milizlers, er setzt sich seit Jahrzehnten ehrenamtlich für das Funktionieren des lokalen Gemeinwesens ein. Er ist dort tätig, wo ein Mandat nicht mit Karriere und Ansehen verbunden ist. Dort, wo – im besten Fall – Geselligkeit und Freundschaft der Lohn für viele Mühen und stundenlange Sitzungen sind.
Dort, wo die Keimzelle des funktionierenden Gemeinwesens liegt: im Lokalen. In der Kirchgemeinde arbeitet er mit, in verschiedenen Vereinen, seit 1989 sitzt er mit einem Unterbruch für die SP im Solothurner Kantonsrat.
Doch nicht nur seit jenem Abend im Juni stellt sich Huber die Frage, ob im Kleinen noch alles so funktioniert, wie es sollte. Ob im Dorf nicht der gesellschaftliche Kitt, den ein Gemeinwesen braucht, verloren geht. Ob nicht das Interesse der Bevölkerung an der Lokalpolitik so nachgelassen hat, dass das ordentliche Funktionieren leidet. Was war passiert?
Mitte Juni trafen sich die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger seiner Wohngemeinde Obergösgen (SO) zur Gemeindeversammlung. Nur 28 Einwohnerinnen und Einwohner kamen, dabei hätte die Gemeinde 1531 Stimmberechtigte. Und die wenigen Anwesenden trafen eine gewichtige Entscheidung. Die 1.8 Prozent Anwesenden änderten die Gemeindeordnung kräftig ab: Künftig kann ein neuer Gemeindepräsident ins Amt gelangen, ohne dass er vom Volk gewählt werden muss. Denn ist er der einzige Kandidat, findet gar kein Urnengang mehr statt. Stille Wahlen nennt man das. Ein Abbau an Demokratie.
Er habe Mühe, dass «14 Leute 1531 Bürgerinnen und Bürgern ohne Vorwarnung ein Wahlrecht nehmen» können, sagt Huber. Kann so Demokratie funktionieren? Huber zweifelt. Er sagt:
Denn hinzu kommt: Der Entscheid fiel denkbar knapp aus. Eine Stimme machte den Unterschied. 14 waren dafür, 13 dagegen. Und unter den 14 Befürwortern waren erst noch mehrere Gemeinderäte, die den Antrag eingebracht hatten. Diejenigen, die eigentlich beim Volk das Ja zu ihren Plänen einholen müssten. Sie entschieden quasi den Fall selbst.
Obergösgen ist kein Einzelfall. Landauf, landab fanden im Juni wieder Gemeindeversammlungen statt. Die Beteiligung ist jetzt oft noch tiefer als zu Zeiten vor Corona. In Cham (ZG) kamen gerade mal 78 von 10'488 Stimmberechtigten. In Biberist (SO) waren es 35 von 5773 - 0.6 Prozent. In Aesch (BL) entschieden 376 von 6450 Stimmbürgern über ein 20-Millionen-Budget für eine Kultur- und Sporthalle. «Das ist für so ein Grossprojekt beschämend wenig», schrieb ein Leserbriefschreiber. Und ergänzte:
Neu ist der Trend nicht. Doch in den letzten 30 Jahren ist die Teilnehmerzahl an Gemeindeversammlungen «noch einmal deutlich zurückgegangen». So hält es das kürzlich publizierte neue «Schweizer Gemeindemonitoring» fest.
In grossen Ortschaften sind es demnach «im besten Fall noch ein paar wenige Prozent». Dabei kann man vermuten, dass das fehlende Interesse nicht an den lokalen Themen liegt, sondern durchaus an der Veranstaltungsform Gemeindeversammlung: Als Gemeinden zu Coronazeiten die Versammlungen absagten und dafür Urnengänge ansetzten, war die Beteiligung jeweils deutlich höher.
Andreas Ladner gehört zu den besten Kennern des Schweizer Gemeindewesens. Der Politologe von der Uni Lausanne hat nicht nur am Gemeindemonitoring mitgearbeitet; er forscht auch seit Jahren zu den Kommunen. Ladner sagt: Es sei zwar «unschön», dass so wenig Leute teilnehmen.
Dies sei in der Regel nicht der Fall. Denn meist trifft die Minderheit durchaus Entscheide, die die Mehrheit akzeptiert.
Dies zeigt auch die Forschung von Philippe E. Rochat. Der Politologe hatte über Jahre die Aargauer Gemeindeversammlungen beobachtet – und festgestellt, dass nur gerade in jedem 50. Fall das mögliche Referendum ergriffen wurde. Die Entscheide waren also breit akzeptiert. Aus Sicht der Politologen sind Gemeindeversammlungen deshalb sehr effizient: Wenige Leute entscheiden im Sinne aller, quasi als kleines Parlament.
Zudem bedeutet eine hohe Teilnehmerzahl laut Rochat nicht unbedingt mehr Politikleben: In grösseren Gemeinden ist die Beteiligung, prozentual gesehen, zwar viel tiefer als in kleineren Kommunen. Dafür aber wird mehr debattiert, es werden mehr Anträge eingereicht. In kleinen Gemeinden ist die Teilnehmerzahl dagegen zwar hoch. Es gibt aber weniger Diskussionen. Man trifft sich lieber einfach.
Unproblematisch ist die Entwicklung allerdings nicht: Das System wird anfälliger für Manipulationsversuche. Man spricht von der «Turnvereindemokratie»: Will ein Verein ein Projekt durchbringen, reicht es, wenn seine Mitglieder kommen. Und je weniger Leute teilnehmen, umso anfälliger wird das System.
Ladner rät deshalb, die tiefe Beteiligung abzusichern. Eine Möglichkeit ist etwa, dass im Nachgang zu einer Gemeindeversammlung ein Referendum ergriffen werden kann. Und die Gründe für die Entwicklung? Politologe Ladner sagt:
Themen, die besonders mobilisieren, gibt es dabei durchaus: Es sind etwa Tempo 30, Bauvorhaben und Landkäufe oder geplante Steuererhöhungen.
«Vor 30 Jahren kannte ich 80 Prozent der Leute im Dorf», sagt Polit-Urgestein Urs Huber aus Obergösgen. Inzwischen gibt es viele Neuzuzüger, die sich kaum engagieren. «Für das Dorfleben ist dies nicht gut.» Huber befürchtet einen Teufelskreis: Weil weniger Leute mitmachen, versucht man, die Strukturen effizienter zu machen. Man verzichtet auf Wahlen, weil es nur so viele Kandidaten wie Ämter gibt. Man schafft Kommissionen ab, weil Leute fehlen.
Doch das kann aus Hubers Sicht wiederum fatale Folgen haben: Niederschwellige Einstiegsmöglichkeiten in die Politik fehlten, seit Gremien wie die Schulkommissionen abgeschafft worden seien, sagt er. Er mahnt deshalb vor Strukturveränderungen nur aus Effizienzgründen. Es könnte unbeabsichtigte Langzeitfolgen haben. Sie wären nicht gut für die Demokratie.
1. Alle Welt sagt, "es isch mega wichtig gahsch go abstimme". Niemand aber sagt, dass es wichtig ist an die Gemeindeversammlung zu gehen.
2. Man ist stolz auf die direkte Demokratie. Aber eben nur wenn die Neuigkeiten auf Srf 1 serviert werden, und nicht wenn man dafür eine Regionalzeitung lesen müsste.
3. Im Geschichtsunterricht bewundert man die attische Demokratie in Athen und fragt sich warum es 2500 Jahre brauchte bis sie sich durchsetzte. Selber aber zu deren Erhalt beizutragen will man dann aber doch nicht.
In meiner früheren Gemeinde war das Gang und Gäbe, den man wollte manche Dinge nicht über den Kopf der Allgemeinheit hinweg entscheiden. Grundsätzlich sollte man aber seine demokratischen Rechte nutzen, wenn man kann.