Schweiz
Gesellschaft & Politik

Kommt die Heiratsstrafe erneut an die Urne?

ZUR EIDGENOESSISCHEN ABSTIMMUNG UEBER DIE VOLKSINITIATIVE „FUER EHE UND FAMILIE – GEGEN DIE HEIRATSSTRAFE“ AM SONNTAG, 28. FEBRUAR 2016, STELLEN WIR IHNEN FOLGENDES BILDMATERIAL ZUR VERFUEGUNG - Urs a ...
Falsche Zahl im Abstimmungsbüchlein: Es sind viel mehr Doppelverdienerpaare von der Heiratsstrafe betroffen als angenommen.Bild: KEYSTONE

Bund verrechnet sich bei Heiratsstrafe um 347'000 Paare – die CVP reicht Beschwerde ein

Eine falsche Zahl im Abstimmungsbüchlein sorgt für rote Köpfe. Die CVP sieht sich um ihren Sieg bei der Abstimmung über die Abschaffung der Heiratsstrafe betrogen und hat am Montag offiziell in mehreren Kantonen eine Abstimmungsbeschwerde eingereicht. Die 6 wichtigsten Antworten.
18.06.2018, 15:5618.06.2018, 22:28
Mehr «Schweiz»

Lange Zeit sah es in den Umfragen gut aus, doch letztlich sah sich die CVP auf der Verliererseite. Ihre Volksinitiative zur Abschaffung der Heiratsstrafe scheiterte am 28. Februar 2016 trotz der Zustimmung in 18 Kantonen ganz knapp mit 49,2 Prozent Ja-Stimmen.

Bei einem derart knappen Resultat fragt man sich besonders, was den Ausschlag gab. Über zwei Jahre später wird publik, woran es gelegen haben könnte: Im Abstimmungsbüchlein stand eine kreuzfalsche Zahl.

Was ist passiert?

Die Eidgenössische Steuerverwaltung (ESTV) hat sich um über das Fünffache vertan. Und zwar stand im damaligen Abstimmungsbüchlein, dass rund 80'000 Doppelverdienerpaare mehr direkte Bundessteuer zahlen müssen als unverheiratete Paare mit gleichen wirtschaftlichen Verhältnissen. Doch: Das stimmt nicht, wie der Bund am Freitag zugab.

Prominent im ersten Satz – der Fehler im Abstimmungsbüchlein

Heiratsstrafe – Fehler des Bundes
Bild: Screenshot/Abstimmungsbüchlein

Tatsächlich sind 454'000 Doppelverdienerpaare von der sogenannten Heiratsstrafe betroffen, welche die CVP mit ihrer Volksinitiative abschaffen wollte.

Zumindest die damalige Berechnung der jährlichen Kosten der Reform soll korrekt gewesen sein. Der Bund rechnet weiterhin mit Mindereinnahmen von 1,15 Milliarden Franken, wenn der CVP-Vorschlag umgesetzt würde.

Wie konnte sich die Steuerverwaltung derart verrechnen?

Die Eidgenössische Steuerverwaltung (ESTV) hat beim Schätzen die Doppelverdienerehepaare mit Kindern vergessen. So begründete der Bund den peinlichen Fehler. Wie dies passieren konnte, versuchte Patrick Teuscher, ESTV-Sprecher, gegenüber dem «Tages-Anzeiger» zu erklären: Bereits seit 2006 habe in der Steuerverwaltung die Schätzung von 80'000 betroffenen Paaren zirkuliert. Als man zuletzt diese Zahl überprüft habe, sei man alleine mit den Paaren ohne Kinder auf diesen Wert gekommen. Dadurch seien die Paare mit Kinder wohl vergessen gegangen.

Bundesrat Ueli Maurer hat nun eine externe Überprüfung der Schätzmethoden und des vorhandenen statistischen Materials der Steuerverwaltung angeordnet.

Welche Folgen hatte der Fehler?

Die falsche Zahl war eines der Argumente der Gegner der Initiative. So liess sich etwa der SP-Präsident Christian Levrat im Vorfeld der Abstimmung wie folgt zitieren: «Die Initiative kostet bis zu 2,3 Millarden Franken, und das nur, um 80'000 Ehepaare, oder 2 Prozent der Bevölkerung, steuerlich besserzustellen.»

Nun stellt sich die Frage, wie stark diese falsche Zahl der Ausgang der Abstimmung beeinflusst hat. Für die CVP ist der Fall klar. Sie sieht sich um den Sieg betrogen. «Die CVP-Initiative von 2016 hätte Erfolg gehabt!», schreibt die Partei auf Twitter.

Dass alles hätte anders kommen können, sehen auch die Gegner ein. «Das Resultat war sehr knapp, das ist nicht von der Hand zu weisen», sagt SP-Nationalrat Cédric Wermuth gegenüber watson. Doch es bringe jetzt nichts, im Kaffeesatz zu lesen: «Wichtig ist, dass die CVP nun das Recht hat, dass ihr Anliegen nochmals aufgenommen wird.» Dies müsse aber nicht zwangsläufig eine erneute Abstimmung sein.

Was tut die CVP jetzt?

Die CVP fordert die Wiederholung der Abstimmung und hat am Montag in mehreren Kantonen Beschwerde eingereicht. Dies innerhalb der gültigen Frist von drei Tagen seit Bekanntmachung der gravierenden Fehler durch den Bundesrat, schreibt Parteipräsident Gerhard Pfister watson. Er nervt sich darüber, dass der Bundesrat den Fehler am Freitagnachmittag kommunizierte und «damit den Beschwerdeführern die Arbeit noch zusätzlich erschweren wollte».

Jetzt haben die Kantone zehn Tage Zeit über die eingereichte Verfassungsbeschwerde zu befinden. Lehnen Sie die Beschwerde ab, kann sie ans Bundesgericht weitergezogen werden. 

Müssen wir erneut darüber abstimmen?

Das Bundesgericht könnte tatsächlich entscheiden, dass wir nochmals über das CVP-Anliegen abstimmen müssen. 

Staatsrechtler Rainer J. Schweizer räumt der Beschwerde Chancen ein. «Da wichtige Informationen offenkundig falsch oder gar irreführend waren, ist eine Beschwerde sicher nicht aussichtslos», sagt er zum «Tages-Anzeiger». Und: Bei der ersten Abstimmung sei nichts beschlossen worden, dass nicht rückgängig gemacht werden könne.

Auch Gerhard Pfister ist gespannt, wie das Bundesgericht allenfalls entscheidet. Es sei eine entscheidende Frage, schreibt er watson: «Wie falsch müssen die bundesrätlichen Informationen sein, damit eine Abstimmung für ungültig erklärt und wiederholt wird?»

Gab es bereits einen ähnlichen Fall?

Teilweise vergleichbar ist der Fall mit der Abstimmung über die Unternehmenssteuerreform II, die 2008 angenommen wurde. Drei Jahre nach der Abstimmung musste das Bundesgericht über eine Beschwerde entscheiden. So machten die Beschwerdeführer geltend, dass die Stimmbürger vom Bund hinters Licht geführt worden seien, da die tatsächlichen Steuerausfälle durch die Annahme der Vorlage viel höher ausfallen, als im Vorfeld prognostiziert.

Das Bundesgericht rüffelte zwar den Bund, sah aber von einer Wiederholung ab. Dies begründeten sie mit dem Hinweis auf Rechtssicherheit und Vertrauensschutz. Viele Firmen hätten sich bereits auf das neue Steuerrecht eingestellt.

Ein Heiratsantrag kann so schön sein

Video: watson

Brrrr! Heiraten bei minus Temperaturen und Fondue

1 / 12
Heiraten bei minus Temperaturen und Fondue
Heiraten in der Eiskapelle: Der Kanton Waadt will mit dem Angebot vor allem chinesische Touristen anlocken.
quelle: keystone / thomas delley
Auf Facebook teilenAuf X teilen
DANKE FÜR DIE ♥
Würdest du gerne watson und unseren Journalismus unterstützen? Mehr erfahren
(Du wirst umgeleitet, um die Zahlung abzuschliessen.)
5 CHF
15 CHF
25 CHF
Anderer
twint icon
Oder unterstütze uns per Banküberweisung.
Das könnte dich auch noch interessieren:
34 Kommentare
Weil wir die Kommentar-Debatten weiterhin persönlich moderieren möchten, sehen wir uns gezwungen, die Kommentarfunktion 24 Stunden nach Publikation einer Story zu schliessen. Vielen Dank für dein Verständnis!
Die beliebtesten Kommentare
avatar
James McNew
18.06.2018 16:42registriert Februar 2014
Zahlen hin oder her: Hätte die CVP nicht eine enge Definition der Ehe ("Mann und Frau") in die Bundesverfassung schmuggeln wollen, hätte die Initiative auch mehr Chancen gehabt...
29020
Melden
Zum Kommentar
avatar
raphe qwe
18.06.2018 16:31registriert Juni 2017
Das Problem bei der Abstimmung waren nicht die Anzahl der Betroffenen sondern die christlich-konservative Definition der Ehe, welche die CVP durch das Hintertürchen einschleichen wollte. Wenn sie das lassen kriegen sie auch ihr Anliegen durch.
19415
Melden
Zum Kommentar
avatar
Bits_and_More
18.06.2018 16:36registriert Oktober 2016
Die Initiative hätte, unabhängig von den falschen Zahlen, ohne die Zementierung der Ehe auf Mann und Frau und ohne die Individualbesteuerung auszuschliessen, wesentlich mehr Chancen gehabt.
Ich unterstütze zwar das Anliegen (bezahlen selbst ca. 4000 mehr nach der Heirat), aber nicht zu dem Preis.
14713
Melden
Zum Kommentar
34
Die verrückte Geschichte, wie Renate Wild (55) in die Armut rutschte
Über 700'000 Menschen in der Schweiz leben in Armut. Eine von ihnen ist Renate Wild. Die 55-Jährige ist in bescheidenen Verhältnissen aufgewachsen. Nach einem schweren Schicksalsschlag muss sie seit Jahren mit dem Existenzminimum auskommen.

«Ich hatte mein ganzes Leben finanzielle Probleme. Gereicht hat es nie.» Das sagt Renate Wild, zweifache Mutter und verwitwet. Wild gehört zu den 702'000 Personen, die in der Schweiz 2022 in Armut lebten.

Zur Story