Lange Zeit sah es in den Umfragen gut aus, doch letztlich sah sich die CVP auf der Verliererseite. Ihre Volksinitiative zur Abschaffung der Heiratsstrafe scheiterte am 28. Februar 2016 trotz der Zustimmung in 18 Kantonen ganz knapp mit 49,2 Prozent Ja-Stimmen.
Bei einem derart knappen Resultat fragt man sich besonders, was den Ausschlag gab. Über zwei Jahre später wird publik, woran es gelegen haben könnte: Im Abstimmungsbüchlein stand eine kreuzfalsche Zahl.
Die Eidgenössische Steuerverwaltung (ESTV) hat sich um über das Fünffache vertan. Und zwar stand im damaligen Abstimmungsbüchlein, dass rund 80'000 Doppelverdienerpaare mehr direkte Bundessteuer zahlen müssen als unverheiratete Paare mit gleichen wirtschaftlichen Verhältnissen. Doch: Das stimmt nicht, wie der Bund am Freitag zugab.
Tatsächlich sind 454'000 Doppelverdienerpaare von der sogenannten Heiratsstrafe betroffen, welche die CVP mit ihrer Volksinitiative abschaffen wollte.
Zumindest die damalige Berechnung der jährlichen Kosten der Reform soll korrekt gewesen sein. Der Bund rechnet weiterhin mit Mindereinnahmen von 1,15 Milliarden Franken, wenn der CVP-Vorschlag umgesetzt würde.
Die Eidgenössische Steuerverwaltung (ESTV) hat beim Schätzen die Doppelverdienerehepaare mit Kindern vergessen. So begründete der Bund den peinlichen Fehler. Wie dies passieren konnte, versuchte Patrick Teuscher, ESTV-Sprecher, gegenüber dem «Tages-Anzeiger» zu erklären: Bereits seit 2006 habe in der Steuerverwaltung die Schätzung von 80'000 betroffenen Paaren zirkuliert. Als man zuletzt diese Zahl überprüft habe, sei man alleine mit den Paaren ohne Kinder auf diesen Wert gekommen. Dadurch seien die Paare mit Kinder wohl vergessen gegangen.
Bundesrat Ueli Maurer hat nun eine externe Überprüfung der Schätzmethoden und des vorhandenen statistischen Materials der Steuerverwaltung angeordnet.
Die falsche Zahl war eines der Argumente der Gegner der Initiative. So liess sich etwa der SP-Präsident Christian Levrat im Vorfeld der Abstimmung wie folgt zitieren: «Die Initiative kostet bis zu 2,3 Millarden Franken, und das nur, um 80'000 Ehepaare, oder 2 Prozent der Bevölkerung, steuerlich besserzustellen.»
Nun stellt sich die Frage, wie stark diese falsche Zahl der Ausgang der Abstimmung beeinflusst hat. Für die CVP ist der Fall klar. Sie sieht sich um den Sieg betrogen. «Die CVP-Initiative von 2016 hätte Erfolg gehabt!», schreibt die Partei auf Twitter.
Heiratsstrafe: der Bund verbreitete jahrelang falschen Zahlen! Mehr als 7⃣0⃣0⃣'0⃣0⃣0⃣ Paare werden diskriminiert! Die #CVP-Initiative von 2016 hätte Erfolg gehabt! Jetzt ist das @chparlement in der Verantwortung! https://t.co/sX6aO0x0CT https://t.co/FP9HHVEUeA
— CVP PDC PPD PCD (@CVP_PDC) 15. Juni 2018
Echt peinlich! Mit richtigen Zahlen hätte die @CVP_PDC Volksinitiative sicher über 50% JA-Stimmen erzielt. Unsäglich. Jetzt rasch handeln, lieber Bundesrat! https://t.co/m1U6oaX13z
— Kathy Riklin, Zürich (@KathyRiklin) 15. Juni 2018
Dass alles hätte anders kommen können, sehen auch die Gegner ein. «Das Resultat war sehr knapp, das ist nicht von der Hand zu weisen», sagt SP-Nationalrat Cédric Wermuth gegenüber watson. Doch es bringe jetzt nichts, im Kaffeesatz zu lesen: «Wichtig ist, dass die CVP nun das Recht hat, dass ihr Anliegen nochmals aufgenommen wird.» Dies müsse aber nicht zwangsläufig eine erneute Abstimmung sein.
Einverstanden, das geht nicht. @CVP_PDC hat das Recht, dass wir das nochmal aufnehmen. Aber wäre es nicht schlauer, wir wechselten gleich zur Individualbesteuerung? https://t.co/RhsyLTWIA0
— Cédric Wermuth (@cedricwermuth) 18. Juni 2018
Die CVP fordert die Wiederholung der Abstimmung und hat am Montag in mehreren Kantonen Beschwerde eingereicht. Dies innerhalb der gültigen Frist von drei Tagen seit Bekanntmachung der gravierenden Fehler durch den Bundesrat, schreibt Parteipräsident Gerhard Pfister watson. Er nervt sich darüber, dass der Bundesrat den Fehler am Freitagnachmittag kommunizierte und «damit den Beschwerdeführern die Arbeit noch zusätzlich erschweren wollte».
Jetzt haben die Kantone zehn Tage Zeit über die eingereichte Verfassungsbeschwerde zu befinden. Lehnen Sie die Beschwerde ab, kann sie ans Bundesgericht weitergezogen werden.
Das Bundesgericht könnte tatsächlich entscheiden, dass wir nochmals über das CVP-Anliegen abstimmen müssen.
Staatsrechtler Rainer J. Schweizer räumt der Beschwerde Chancen ein. «Da wichtige Informationen offenkundig falsch oder gar irreführend waren, ist eine Beschwerde sicher nicht aussichtslos», sagt er zum «Tages-Anzeiger». Und: Bei der ersten Abstimmung sei nichts beschlossen worden, dass nicht rückgängig gemacht werden könne.
Auch Gerhard Pfister ist gespannt, wie das Bundesgericht allenfalls entscheidet. Es sei eine entscheidende Frage, schreibt er watson: «Wie falsch müssen die bundesrätlichen Informationen sein, damit eine Abstimmung für ungültig erklärt und wiederholt wird?»
Eine staatspolitische Frage ans Bundesgericht: ist eine Volksabstimmung zu wiederholen, wenn der Bundesrat a) falsch, oder b) kreuzfalsch, oder c) überhaupt nicht informiert, oder d) so ‚informiert‘, dass es auf a oder b oder c herauskommt?
— Gerhard Pfister (@gerhardpfister) 18. Juni 2018
Teilweise vergleichbar ist der Fall mit der Abstimmung über die Unternehmenssteuerreform II, die 2008 angenommen wurde. Drei Jahre nach der Abstimmung musste das Bundesgericht über eine Beschwerde entscheiden. So machten die Beschwerdeführer geltend, dass die Stimmbürger vom Bund hinters Licht geführt worden seien, da die tatsächlichen Steuerausfälle durch die Annahme der Vorlage viel höher ausfallen, als im Vorfeld prognostiziert.
Das Bundesgericht rüffelte zwar den Bund, sah aber von einer Wiederholung ab. Dies begründeten sie mit dem Hinweis auf Rechtssicherheit und Vertrauensschutz. Viele Firmen hätten sich bereits auf das neue Steuerrecht eingestellt.