Am Donnerstag wird ein nächstes Kapitel in der endlosen Geschichte der «Ehe für alle» geschrieben: Die Kommission für Rechtsfragen des Nationalrats (RK-N) beugt sich einmal mehr über das Geschäft mit der Nummer 13.468. Die parlamentarische Initiative für eine «Ehe für alle» hatte die grünliberale Fraktion bereits im Dezember 2013 eingereicht. Seither steckt sie in den Mühlen des Parlaments fest. Im letzten Jahr verlängerte der Nationalrat die Behandlungsfrist bis zur Sommersession 2019.
Über diese Verzögerungen regt sich nicht zum ersten Mal Unmut. Am Sonntag schickte die Operation Libero gleichgeschlechtliche Paare in Hochzeitsaufzug ins Berner Marzili-Schwimmbad, um die Aktion #DieSchweizWartet zu lancieren, die dem Parlament Beine machen soll.
Er wartet seit 5 Minuten in der Hotline der Swiss. Warten ist mühsam. Stell dir vor, du wartest seit 5 Jahren auf die #EheFürAlle. #DieSchweizWartet auch noch 2018. Hilf mit und unterzeichne die Petition: https://t.co/sUkt8u7jmX pic.twitter.com/XGSyLfiSkJ
— Ruedi Schneider (@Ruedi_Schneider) 2. Juli 2018
Während beispielsweise das katholische Spanien die Ehe bereits 2005 für Homosexuelle geöffnet hatte, zogen in den vergangenen Jahren immer mehr europäische Staaten nach. Auch Nachbarländer der Schweiz: Der deutsche Bundestag führte die «Ehe für alle» im Sommer 2017 ein, Österreich wird das nach einem höchstrichterlichen Urteil per Anfang 2019 tun. Betrachtet man Westeuropa, wird die Schweiz zunehmend zur rückständigen Insel.
Die politischen Debatten rund um die rechtliche und gesellschaftliche Gleichstellung von Homosexuellen in Europa unterscheidet sich von Land zu Land. Doch laut einem in Kürze erscheinenden Forschungspapier der Politikwissenschaftler Tarik Abou-Chadi und Ryan Finnigan gibt es einen gemeinsamen Nenner: Die geltende Gesetzgebung hat einen signifikanten Einfluss auf die Akzeptanz von Schwulen und Lesben in der Gesellschaft.
Die «Ehe für alle» hat einen positiven Einfluss auf deren Akzeptanz, stellten die Politologen fest. Eheverbote sowie eingetragene Partnerschaften für gleichgeschlechtliche Paare hingegen haben einen negativen Effekt auf die Einstellung gegenüber Homosexuellen. Diese Erkenntnis belegen die beiden Forscher mit Daten aus dem European Social Survey von 2002 bis 2017.
«Öffnet man die Ehe für alle Paare, sendet das ein eindeutiges Signal, dass verschiedene sexuelle Orientierungen gleichwertig sind», sagt Tarik Abou-Chadi gegenüber watson. Er ist Assistenzprofessor am Institut für Politikwissenschaften der Uni Zürich.
Deshalb sei die gesellschaftliche Akzeptanz von Homosexuellen in Spanien seit der Öffnung der Ehe 2005 signifikant stärker angestiegen als in der Schweiz, wo es wenig Veränderung gab. Hier stimmten 2017 nur rund die Hälfte der Befragten der Aussage vollständig zu, Schwule und Lesben sollten so leben dürfen, wie sie es sich wünschten.
In der Schweiz blieb es gesetzlich bei der 2004 eingeführten eingetragenen Partnerschaft. Bei dieser «gesonderten Rechtsform» für gleichgeschlechtliche Paare ist der Effekt laut Abou-Chadi entgegengesetzt: «Damit werden die Homosexuellen als so genannte Out-Group gekennzeichnet und das führt zu einem – oft religiös geprägten – Diskurs der Ungleichwertigkeit».
Aus der Forschung wisse man, dass Ressentiments verstärkt würden, wenn der Eindruck entstehe, eine spezifische Gruppe erhalte neue Rechte – wie das bei der gleichgeschlechtlichen Partnerschaft der Fall sei: «Das kann man derzeit auch in der Migrationsdebatte beobachten», erläutert Abou-Chadi.
In der Bevölkerung vorhandene negative Einstellungen gegenüber Homosexuellen verstärkten sich gemäss den Daten des European Social Surveys mit der Einführung der eingetragenen Partnerschaft. Dieser Effekt war bei nicht-religiösen und wenig gebildeten Personen besonders ausgeprägt. «Ausserdem motiviert die eingetragene Partnerschaft konservative Kreise dazu, die Institution der Ehe aus religiösen Gründen zu verteidigen.» Werde die Ehe für alle Paare geöffnet, gehe dieser Bewegung oft rasch die Luft aus.
Die Öffnung der Ehe für alle hingegen verstärke vorhandene positive Einstellungen, erklärt Abou-Chadi, der auch am Zentrum für Demokratie in Aarau tätig ist. Die wichtigste Erkenntnis für die Schweizer Politik aus dem Forschungspapier: «Wer zum Ziel hat, die gesellschaftliche Akzeptanz von Homosexuellen zu verbessern, kann sich nicht mit der eingetragenen Partnerschaft zufrieden geben.»
Die «Ehe für alle» bringe nicht nur jenen gleichgeschlechtlichen Paaren die rechtliche Gleichstellung, welche heiraten wollten. «Sie verbessert auch die Situation für Homosexuelle, die mit der Institution der Ehe nichts anfangen könnten.»
Quelle: Der Artikel «Rights for Same-Sex Couples and Public Attitudes toward Gays and Lesbians in Europe» von Tarik Abou-Chadi und Ryan Finnigan wird demnächst in «Comparative Political Science» publiziert.