Mit der seit 2011 geltenden Strafprozessordnung haben Staatsanwälte gegenüber Richtern zu viel Macht. Diese Kritik äussert Bundesrichter Niklaus Oberholzer in einem Zeitungsinterview und spricht von einem «dramatischen Rückzug der Justiz».
Im Justizsystem brauche es Transparenz, denn die Justiz sei als eine der drei Staatsgewalten gegenüber der Öffentlichkeit zur Rechenschaft verpflichtet, sagte Oberholzer im Interview mit «SonntagsZeitung» und «Le Matin Dimanche».
«Mit den über 90 Prozent Strafbefehlen, die nur in seltenen Fällen öffentlich werden, existiert eine solche Transparenz nicht. Das ist gravierend.»
«Eigentlich müsste es doch so sein: Es gibt eine untersuchende Behörde, die vor Gericht den Standpunkt der Strafverfolger einnimmt. Dann gibt es das Gericht, das beide Seiten anhört und unparteiisch entscheidet», sagte Oberholzer. Doch heute erledige der Staatsanwalt gleich auch die Arbeit des Richters.
Für einfache «Massendelikte» mache dieses Verfahren Sinn. Für «rechtsstaatlich problematisch» hält Oberholzer es aber in Fällen, «bei denen es um schwierige Beweis- und Rechtsfragen» oder um Gefängnisstrafen von bis zu sechs Monaten geht.
In seinen Augen könnte Abhilfe geschaffen werden, indem Staatsanwälte nur noch Richter sein dürfen, wenn es um standardisierte Bagatellfälle und nur um Strafen von bis zu drei Monaten geht. «Darunter würden fast nur die Massendelikte fallen.»
Dass sich das Parlament gegen den entsprechenden Vorschlag des Bundesrates gestellt habe, verwundere ihn nicht, sagte Oberholzer auf die entsprechende Frage: «Gerichte werden in der Politik als Störenfriede gesehen, als Verhinderer der effizienten Strafverfolgung.»
Bundesrichter Niklaus Oberholzer wurde im Juni vom Parlament in die Aufsichtsbehörde über die Bundesanwaltschaft gewählt, als Vertreter der SP. Die Aufsichtsbehörde setzt sich aus je einem Richter des Bundesgerichts und des Bundesstrafgerichts zusammen sowie aus zwei Anwälten und drei Fachpersonen. (aeg/sda)