17.07.2018, 05:4319.07.2018, 16:23
anna wanner / nordwestschweiz
Ausgaben für Krankenkassenprämien
fressen ein
immer tieferes Loch ins
Portemonnaie von vielen
Schweizern (siehe Grafik).
Mehrere tausend Franken
gehen jährlich für den Versicherungsschutz
drauf, weitere Leistungen werden
zusätzlich aus dem eigenen Sack
bezahlt. Gesundheit wird immer teurer.
Trotzdem finden wichtige Reformen
seit Jahren keine Mehrheit. Im Juni
ist von der Öffentlichkeit fast unbemerkt
ein kleiner Durchbruch gelungen.
Der Nationalrat will die Qualitätsvorgaben
im Gesetz konkretisieren. Mit
164:26 Stimmen hat er die Änderungen
gutgeheissen – nur die FDP stimmte
mehrheitlich dagegen
zvg az
Wenn Politiker aller Couleur medizinische
Fehler, Unwissen und falsche
Anreize für nicht länger tolerierbar halten,
wieso dauert es dann so lange, bis die Situation verbessert wird? Seit 22
Jahren gibt es Kräfte im Parlament, die
die Qualität bei Gesundheitsleistungen
steigern wollen: zunächst über die Einführung
des Krankenversicherungsgesetzes.
Doch ist dies toter Buchstabe
geblieben. Es gebe bis heute keine Qualitätsvorgaben,
sagt SP-Nationalrätin
Bea Heim (SO). «Deshalb müssen wir
den Vollzug präzisieren.» Die Tarifpartner
sollen stärker in die Pflicht genommen
werden, Qualitätsverträge abzuschliessen.
SP-Nationalrätin Bea Heim.Bild: KEYSTONE
Heim gehört zu jenen, die
sich seit Jahren für Qualität und Patientensicherheit
einsetzen. Endlich, so
sagt sie, gehe es nun vorwärts. Denn
trotz gut ausgebildeten Ärztinnen und
Pflegern weist die Qualität der hiesigen
Gesundheitsversorgung grosse Lücken
auf: Jeder neunte Schweizer hat bereits
einen medizinischen Fehler oder einen
Medikationsfehler erlebt, fast jeder
zehnte erlitt nach einem Spitalaufenthalt
eine Infektion. Die Schweiz weist
damit schlechtere Werte auf als
Deutschland, Frankreich oder die Niederlande.
Abgesehen vom menschlichen Leid,
das mit medizinischen Fehlleistungen
verbunden ist, gehen diese auch ins
Geld. Schätzungen des Bundes gehen
von rund 350'000 unnötigen Spitaltagen
pro Jahr aus. Mehrere hundert Millionen
Franken fehlerbedingte Kosten
fallen alleine im stationären Bereich
der Spitäler an. Für den ambulanten
Bereich fehlen jegliche Daten, nicht
einmal Schätzungen sind möglich.
Verbindlichkeit schaffen
Die Umsetzung scheiterte bisher an
vermeintlichen Details. So haben in
den letzten zehn Jahren Verwaltung
und Parlament alle möglichen Organisationsformen
durchgespielt: Wer kann
Qualitätsvorgaben durchsetzen sowie
Verbindlichkeit schaffen, ohne gleichzeitig
eine neue Behörde aufzubauen?
Zuerst sollte ein nationales Institut her,
dann eine Fachstelle, eine Plattform,
oder vielleicht doch eine Stiftung?
Jetzt
hat sich der Nationalrat für eine unbürokratische
Lösung, eine Kommission,
entschieden. Darin sollen alle Player
Einsitz nehmen und eigene Projekte,
Wissen und Forderungen einbringen
können. Bottom-up heisst die Losung
der Stunde. Impulse sollen aus der Praxis
kommen und die Betroffenen sind
in die Ausarbeitung der Projekte einzubeziehen.
Ein Beispiel dafür sind die
Checklisten in den Operationssälen.
Tupfer zählen oder Sterilität der Instrumente
prüfen, gehören zum Fragebogen
dazu, der bei jeder OP abgehakt
werden muss. Die Praxis zeigte, dass
weniger Fehler passieren.
Als weiteres Beispiel nennt Bea Heim
die Notwendigkeit des gezielteren Einsatzes
von Antibiotika durch Hausärzte.
«Laut der OECD werden in 60 Prozent
der Fälle bei viralen Infekten Antibiotika
verschrieben. Auch wenn es
darum geht, vorsorglich Komplikationen
zu verhindern, ist dies angesichts zunehmender Resistenzen problematisch.»
Für einen sachgerechteren Einsatz
könnten sich die Ärzte im Rahmen
der Qualitätskommission auf nationale
Richtlinien einigen.
Stärker mit dem Daumen als mit den Beinen
Video: srf
Am seidenen Faden
Während für Spitäler bereits heute
Qualitätsmerkmale erhoben werden,
ist der ambulante Bereich weitgehend
unerforscht. Über die Behandlungsqualität
lassen sich kaum Aussagen
machen. Heinz Brand (SVP/GR) sagt,
dass das Schweizer Gesundheitssystem
punkto Qualität und Effizienz keine
Tradition kenne. «Jeder macht, was
ihm gerade passt und die Krankenversicherer,
das heisst die Prämienzahler,
müssen alles berappen.» Und dies unabhängig
von der Qualität. Trotz dieser
Mängel bestehe nur ein sehr beschränktes
Handlungsverständnis.
Heinz Brand von der SVP.Bild: KEYSTONE
Konkret wehren sich Ärzte und Spitäler:
Der Ärzteverband FMH lehnt die
vom Bund eingesetzte Kommission
ab, obwohl er bessere Leistungsqualität
für wichtig hält. Diese lasse sich
auch von bestehenden Organisationen
umsetzen. Isabelle Moret (FDP/VD),
Präsidentin des Spitalverbands H+,
verfolgte diese Argumentation im Nationalrat,
scheiterte aber klar.
Dass nun eine Lösung auf dem Tisch
liegt, ist umso bemerkenswerter, weil
der Ständerat vor zwei Jahren die
mehrmals revidierte Vorlage einfach
fallen gelassen hatte: Sie sei unnötig.
Nun hat der Nationalrat nachgebessert,
hat Sanktionsmöglichkeiten hineingepackt.
Trotzdem ist die Gesundheitskommission
des Ständerats nicht
zufrieden und will abermals neue Modelle
prüfen. Ruth Humbel (CVP/AG)
sagt: «In der Vorlage steckt einfach der
Knopf drin.» Denn der Vorschlag des
Nationalrats wurde mit viel Fingerspitzengefühl
und Beharrlichkeit gegenüber
allen Playern erarbeitet. Jede Änderung
droht das fragile Gleichgewicht
wieder zu zerbrechen.
Baustelle 1: Einheitliche Finanzierung von ambulanten und stationären Leistungen (EFAS)
Schon auf den ersten Blick wird klar, wie viel Geld in die Bewerbung der einheitlichen Finanzierung von ambulanten und stationären Leistungen (EFAS) gebuttert wurde. Das Video auf der eigens gestalteten Website erklärt, wieso eine solche Reform Sinn ergibt: Patient X hat einen Leistenbruch, den er ambulant behandeln lässt. Der Eingriff kostet 3032 Franken. Hätte Patient X im Spital übernachten müssen, wären die Kosten auf 4760 Franken gestiegen. Es besteht also ein gesamtwirtschaftliches Interesse, dass Leistenbrüche sowie viele andere Eingriffe ambulant durchgeführt werden. Allerdings bestehe heute ein Fehlanreiz in der Finanzierung. Ambulante Eingriffe bezahlt die Krankenkasse, stationäre (mit Übernachtung) zu 55 Prozent der Kanton.
Für den Prämienzahler ist es trotz höheren Kosten günstiger, im Spital zu übernachten: Anstatt 3032 Franken muss die Krankenkasse 2142 Franken (45 Prozent) berappen. Diesen Fehlanreiz gelte es aus der Welt zu schaffen. So könnten überschlagen bis zu vier Milliarden Franken Kosten gespart werden, rechnet die Stimme im Video vor. Zu dieser Überzeugung sind nicht nur Krankenkassen gelangt, die diese Reform vorantreiben. Auch Apotheker, Ärzte, Patienten- und Konsumentenorganisationen sowie die meisten Parteien unterstützen die Änderung. Doch wieder: Sobald es konkret wird, mehren sich die Gegner. Gemeinsam mit den Kantonen will die SP verhindern, dass mit der Reform Krankenversicherer über die Finanzierung von Leistungen entscheiden können und sich so die Macht bei ihnen bündelt.
Klar ist auch, dass eine Reform ohne Zustimmung der Kantone kaum möglich sein wird. Thomas Heiniger, Präsident der Gesundheitsdirektoren (GDK), sagt, da es sich gerade für die Kantone um einen grossen Umbau handle, müssten deren Forderungen erfüllt werden. So müsse erstens die gesamte medizinische Versorgungskette einheitlich finanziert werden – vom Hausarzt bis zur Pflege. «Nur so kann die Schnittstellenproblematik gelöst werden und damit das Problem, dass die Kosten einfach an den nächsten abgeschoben werden.»
Allerdings ist Nationalrätin Ruth Humbel (CVP/AG) der Meinung, dass damit das Fuder überladen werde. Die zweite Forderung der Kantone: Jener, der für die Versorgung verantwortlich ist und diese zahlen muss, muss auch mitbestimmen können. Dies will man den Kantonen über die Zulassungssteuerung gewähren. Doch auch hier zeichnet sich vorerst keine Lösung ab.
Baustelle 2: Steuerung der Zulassung von Ärzten
Bis vor den Sommerferien sah es so aus, als ob der seit 2002 währende Streit um die Zulassung von Ärzten endlich beigelegt werden kann. Denn seit 16 Jahren ist die Regelung nur befristet gültig und muss deshalb ständig wieder erneuert werden. Zuletzt lehnte das frisch gewählte Parlament im Dezember 2015 überraschend eine definitive Lösung ab. Nun will der Bundesrat in einer neuen Vorlage die Kompetenz weitgehend den Kantonen überlassen. Sie sollen entscheiden, wie viele Ärzte in ihrem Hoheitsgebiet neue Praxen eröffnen dürfen. Sie sollen so eine Überversorgung verhindern oder zumindest das Kostenwachstum dämpfen.
Die Gesundheitskommission des Nationalrats hat in der letzten Sitzung vor den Sommerferien wiederum überraschend Massnahmen ergriffen, um eine weitere befristete Verlängerung zu ermöglichen. Man kann das als Vorsichtsmassnahme lesen, die Vorlage muss spätestens in der Herbstsession ins Plenum des Nationalrats, um die Änderungen bis Mitte 2019 umzusetzen. Doch die bürgerliche Mehrheit der Kommission zögert die Reform hinaus. Grund dafür ist das Tauziehen bei der einheitlichen Finanzierung (siehe Text links): Die Kantone wollen die Ärztepopulation steuern können, bevor sie die Kosten dafür mittragen müssen. Umgekehrt wollen die Versicherer den Kantonen neue Kompetenzen nur geben, wenn sie sich an der Finanzierung beteiligen. Die beiden Reformen sind also direkt aneinandergeknüpft. Die SP kritisiert dies. Vizepräsidentin Barbara Gysi sagt, nicht die unterschiedliche Finanzierung führe zu Fehlanreizen, sondern die Tarifierung. Das wäre dann die dritte blockierte Reform.
Baustelle 3: Revision des ambulanten Tarifs Tarmed
Auch die Revision des ambulanten Ärztetarifs Tarmed gehört unterdessen zu den Dauerbrennern in der Gesundheitspolitik. Der Tarmed, mit welchem Ärzte ihre Leistungen abrechnen, basiert auf einer Datengrundlage aus dem letzten Jahrtausend. Da er nie à fond revidiert wurde, entstehen starke Verzerrungen. Vor 20 Jahren dauerte eine Augenoperation mehrere Stunden. Die Operation ist zwar immer noch aufwendig, dank technischer Neuerungen gelingt sie aber in einer wesentlich kürzeren Zeit. Nur: Die Leistung wird nach alten Daten verrechnet – und somit um ein Vielfaches überzahlt. Das führt dazu, dass Augenärzte deutlich besser verdienen als Psychiater, die wenig vom technischen Fortschritt profitieren. Die Tarifpartner (Versicherer, Ärzte und Spitäler) arbeiten seit Jahren an einer Reform.
Nachdem sie diese mehrmals hinausgeschoben haben, griff der Bundesrat ein und setzte einzelne Änderungen durch – gegen den Widerstand der Ärzte. 2016 lehnte dann die Ärzteschaft den fertig ausgehandelten neuen Tarif ab. Das provozierte einen weiteren Eingriff des Bundesrats, wiederum zum Leidwesen der Ärzteschaft. Nun will sie zusammen mit den Spitälern und Versicherern bis Ende September die Verhandlungen über einen neuen Tarif abschliessen. Die zuständigen Gremien müssen diesen dann genehmigen, bevor sie ihn bis Ende 2019 beim Bundesrat einreichen. Die Partner geben sich zuversichtlich. Auch der Blick in einschlägige Foren zeigt, dass für viele Ärzte die aktuelle Situation unhaltbar ist. Doch ob das für eine Zustimmung zu einer kompletten Änderung reicht?
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