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Der Suizidtourismus in der Schweiz boomt

Fast zwei Drittel der Sterbewilligen reisten von Deutschland und Grossbritannien an.
Fast zwei Drittel der Sterbewilligen reisten von Deutschland und Grossbritannien an.symbolbild: KEYSTONE
In vier Jahren verdoppelt

Der Suizidtourismus in der Schweiz boomt

Die Zahl der Sterbehilfetouristen in der Schweiz hat sich in vier Jahren verdoppelt. Die meisten kommen aus Deutschland, mehr als die Hälfte sind Frauen und praktisch alle liessen sich von Dignitas helfen.
21.08.2014, 05:0521.08.2014, 08:36
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Zwischen 2008 und 2012 haben sich 611 im Ausland wohnende Menschen hier zu Lande das Leben genommen. Dies berichten Schweizer Forschende in einer Pilotstudie. Die Zahl der Sterbewilligen, die zum assistierten Suizid in die Schweiz reisen, hat sich zwischen 2008 und 2012 verdoppelt

Mit der Pilotstudie, die im «Journal of Medical Ethics» veröffentlicht wurde, wollten die Wissenschaftler Alter, Geschlecht und Herkunftsland der Menschen herausfinden, die in die Schweiz kommen, um zu sterben. Ferner wie sie das tun und an welchen Krankheiten sie leiden.

Alle bis auf vier Sterbewillige nahmen sich mit Hilfe von Dignitas das Leben.

Sie suchten dazu in den Datenbanken des Instituts für Rechtsmedizin der Universität Zürich nach Untersuchungs- und Obduktionsberichten zu assistierten Suiziden von Personen aus dem Ausland.

Die wichtigsten Ergebnisse der Studie:

  • Die 611 Suizidtouristen stammen aus 31 verschiedenen Ländern
  • Fast zwei Drittel von ihnen reisten aus Deutschland (268) und Grossbritannien (126) in die Schweiz. Es folgten Frankreich (66), Italien (44), die USA (21), Österreich (14), Kanada (12), Spanien und Israel (je 8).
  • Es zeigte sich, dass die Sterbetouristen zwischen 23 und 97 Jahre alt waren, im Mittel 69 Jahre.
  • Mit 58,8 Prozent waren mehr als die Hälfte der Sterbetouristen Frauen. Sie nehmen assistierten Suizid mit einer 40 Prozent höheren Wahrscheinlichkeit in Anspruch als Männer.
  • Fast alle schieden mit der Sterbehilfeorganisation Dignitas aus dem Leben. Nur vier Patienten wählten eine andere Organisation.
  • Die Suizidwilligen litten in fast der Hälfte der Fälle an neurologischen Erkrankungen wie Lähmungen, motorischen Nervenkrankheiten wie Amyotrophe Lateralsklerose (ALS), Parkinson und Multiple Sklerose (MS). Es folgten Krebs und Rheuma-Erkrankungen.
  • Fast alle Betroffenen starben durch das Schlafmittel Natrium-Pentobarbital, vier durch inhaliertes Helium.
  • Zwischen 2008 und 2009 gab es eine Abnahme des Sterbetourismus in der Schweiz. Die Studienautoren vermuten, dass die Kritik und die grosse Medienaufmerksamkeit zum umstrittenen Tod durch Helium ein Grund dafür sein könnte. Diese Todesart erhielt 2008 grosse mediale Aufmerksamkeit und wurde als langwierig und belastend beschrieben. Bis 2012 folgte dann ein starker Anstieg.
Harsche Kritik an der Studie
Die fünf Schweizer Selbstbestimmungs-Organisationen kritisieren in einer Stellungnahme die zahlreichen Ungenauigkeiten, welche die Pilotstudie aufweise. Sie verschweige wichtige Tatsachen und Hintergrundinformationen. Einer der Kritikpunkte betrifft den gewählten Zeitraum 2008 bis 2012.

Dies gebe ein verzerrtes Bild und suggeriere ein dramatisches Resultat. Hätten die Autoren den repräsentativeren Zeitraum 2006 bis 2012 gewählt, hätten sie «nur» konstante Fallzahlen vorweisen können. 2006 begleitete Dignitas 195 Menschen, 2012 198.  

Es stimme also nicht, dass sich Sterbehilfe für Ausländer verdoppelt habe, die Studie vermittle ein falsches Bild. Kritisiert wird auch der Zynismus der Autoren der Studie, welche die schwer leidenden Patienten, konsequent und ohne Anführungszeichen «Suizidtouristen» nennen würden. (sda)
Die meisten der Sterbewilligen schieden mit dem Schlafmittel Pentobarbital aus dem Leben.
Die meisten der Sterbewilligen schieden mit dem Schlafmittel Pentobarbital aus dem Leben.bild: keystone

Rechtslage der Ursprungsländer

Die Forschenden haben sich ausserdem die bestehende Rechtslage zur Suizidbeihilfe in den Ursprungsländern der Suizidtouristen angesehen. «Die Zahlen sprechen dafür, dass es sich lohnt, bestimmten Fragen vertieft nachzugehen», sagte Mitautor Julian Mausbach vom Kompetenzzentrum Medizin – Ethik – Recht Helvetiae der Universität Zürich auf Anfrage der Nachrichtenagentur SDA. 

«In den drei wichtigsten Herkunftsländern finden wir politische Debatten über assistierten Suizid.»

Die Autoren wagen zwar keine Schlüsse, aber doch Vermutungen über die beobachteten Trends. «Wenn wir die drei wichtigsten Herkunftsländer ansehen, finden wir politische Debatten über assistierten Suizid in allen dreien», schreiben sie. 

Die Beispiele Grossbritanniens und Deutschlands bestätigten ihre Hypothese, dass Suizidtourismus in den Herkunftsländern Diskussionen über die Rechtslage zur Sterbehilfe anstossen kann. Der Prozess einer an MS leidenden Britin, die zum Sterben in die Schweiz reisen wollte, führte laut den Autoren zu neuen Richtlinien und veränderter Strafpraxis bei der Suizidbeihilfe. 

Neue Gesetzesvorlage in Deutschland 

In Deutschland habe die Debatte um Suizidtourismus eine neue Gesetzesvorlage angeregt. «Wir wagen nicht zu schliessen, dass allein der Suizidtourismus dafür verantwortlich ist», erklärte Mausbach. Doch es sei plausibel, dass dieser zu einer grösseren Aufmerksamkeit für das Thema geführt hat. 

Diese und weitere Fragen – etwa ob der Trend zur Zunahme des Sterbetourismus anhält oder sich stabilisiert – müssten nun detaillierter untersucht werden. (rey/sda)

Zum Thema:

50-Minütige Dokumentation über den Amerikaner Craig Ewert, der zum Sterben in die Schweiz reiste.Video: youtube/m0rallyb4nkrupt
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