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Warum Ständeratswahlen wichtig sind für Zusammensetzung des Bundesrats

Warum die Ständeratswahlen wichtig sind für die Zusammensetzung des Bundesrats

Wann hat eine Partei Anrecht auf einen Bundesratssitz? Es ist eine der umstrittensten Fragen in der Schweizer Politik. Wichtigstes Kriterium sind bisher die Wähleranteile bei den Nationalratswahlen. Doch es gibt gute Argumente, die Ständeratswahlen stärker zu beachten.
22.08.2022, 09:0312.01.2023, 14:48
Stefan Bühler / ch media
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Jürg Grossen hat seinen Angriff am letzten Sonntag lanciert: «Wenn wir bei den nächsten Wahlen einen Wähleranteil von über zehn Prozent und eine entsprechende Sitzzahl im Parlament erreichen, dann erheben wir Anspruch auf einen Bundesratssitz», sagte der Präsident der Grünliberalen in der «NZZ am Sonntag». FDP-Präsident Thierry Burkart parierte kurz darauf im «Blick»: «Eine Partei, die bis jetzt keinen Sitz im Ständerat besetzt und kaum Regierungsmitglieder in den Kantonen stellt, hat keine Legitimation, im Bundesrat vertreten zu sein.» Ja, der Eindruck täuscht nicht: Die GLP hat es auf einen der beiden FDP-Sitze abgesehen.

Einflussreicher als der Nationalrat: Ständeräte bei ihrer traditionellen Verabschiedung am Ende der Session.
Einflussreicher als der Nationalrat: Ständeräte bei ihrer traditionellen Verabschiedung am Ende der Session.Bild: keystone

Das Rencontre ist in mehrfacher Hinsicht aufschlussreich. Es zeigt, dass der Wahlkampf 2023 lanciert ist. Dass die grünen Kräfte in der Offensive sind. Und dass alles auf einen Showdown im Dezember 2023 hinausläuft, auf die Gesamterneuerungswahl des Bundesrats. Nebenbei illustriert es beispielhaft, wie Parteien ihre Argumentation ins Gegenteil wenden, wenn es die Umstände erfordern: 2011 sagte die damalige Fraktionspräsidentin der FDP, Gabi Huber, zu den Bundesratswahlen: «Konkordanz heisst, dass die drei stärksten Parteien je zwei Bundesräte und die viertstärkste Partei einen Bundesrat stellen.» Und: «Massgebend sind die Wähleranteile.»

Wähleranteil bildet Vorlieben der Städter viel stärker ab

Damals lagen die vier Bundesratsparteien freilich noch deutlich vor den grünen Herausfordererinnen. Seit den Wahlen 2019, als die Grünen die CVP (heute Mitte) überholten, und mit weiteren Erfolgen der Grünliberalen ist das nicht mehr so. Zieht man nur die Wähleranteile bei, lässt sich durchaus begründen, was GLP-Chef Grossen für die künftige Zusammensetzung des Bundesrats vorschlägt: Zwei Sitze für die SVP und je einen für SP, FDP, Mitte, Grüne und Grünliberale. Doch es gibt auch Argumente für Burkarts Forderung, dass eine Partei angemessen im Ständerat vertreten sein soll, bevor sie Anspruch auf einen Bundesratssitz erheben kann.

So bilden die Wähleranteile der im Proporzverfahren durchgeführten Nationalratswahlen vor allem die parteipolitischen Präferenzen der Städte und Agglomerationen ab: Gewinne in bevölkerungsreichen Kantonen wie Zürich, Aargau, St.Gallen oder Waadt schlagen viel stärker zu Buche als entsprechende Gewinne in ländlichen Kleinkantonen. Hingegen werden die parteipolitischen Vorlieben der Kleinkantone im Ständerat stärker, ja: überproportional abgebildet. Das ist gemäss Verfassung so gewollt, wird aber nicht beachtet, wenn Bundesratssitze allein aufgrund der Wählerstärke vergeben werden.

Der Ständerat ist die einflussreichere Kammer

Es gebe ein staatspolitisches Interesse, dass die Bundesratsparteien in beiden Räten angemessen vertreten seien, sagt Sean Müller, Politologe an der Universität Lausanne. Er hat zusammen mit Professor Adrian Vatter 2020 das Buch «Der Ständerat» herausgegeben. «Die Schweiz ist eine föderale Demokratie», erklärt Müller. Damit beispielsweise Verfassungsreformen auf Bundesebene eine Chance haben, müssen sie nicht nur das Volk, sondern auch die Mehrheit der Kantone überzeugen. Während der Nationalrat den Willen der Bürgerinnen und Bürger abbildet, soll der Ständerat auch für einen Interessensausgleich der Regionen und Kantone sorgen – und so Reformen schweizweit zum Durchbruch verhelfen.

Wie Müller in einem ausführlichen Kapitel in dem Ständerat-Buch nachgewiesen hat, ist die kleine Kammer sogar einflussreicher als der Nationalrat: Sind sich die beiden Räte im Gesetzgebungsprozess in einzelnen Punkten uneinig, setzt sich der Ständerat häufiger durch. Und da er öfters die Geschäfte zuerst behandelt, hat er auch grösseren Einfluss auf die grundlegenden Weichenstellungen der Debatte. Doch ausgerechnet bei der Bundesratswahl verliert er seine privilegierte Stellung: In der Bundesversammlung sind die Ständedamen und -herren lediglich 46 von 246 Wahlberechtigten. Immerhin haben sie erhöhte Chancen, selber gewählt zu werden: Mit Alain Berset, Karin Keller-Sutter und Simonetta Sommaruga sitzen gleich drei Ehemalige im Bundesrat.

Hausmacht in beiden Kammern ist für Regierungsmitglieder essenziell

Doch was hat das nun mit dem Anrecht der Parteien auf Bundesratssitze zu tun? Die Landesregierung ist es, die Reformen und Gesetzesprojekte ausarbeitet. Und die Bundesrätinnen und Bundesräte sind es, die ihre Geschäfte im Parlament vertreten. Sie sind dafür in beiden Kammern auf Support angewiesen. «Eine ‹Hausmacht› im Sinne einer oder noch besser zwei oder mehrerer unterstützenden Fraktionen ist essenziell», sagt Müller: «Ohne geht es nicht oder es wird zumindest sehr schwierig.»

Wie wichtig die Beziehungen zum mächtigen Ständerat sind, zeigt sich im informellen Gespräch mit einem Bundesratsmitglied. Es lade regelmässig Parteikolleginnen und -kollegen aus dem Ständerat ein, um mit ihnen Geschäfte des eigenen Departements zu besprechen, noch bevor sie in den Rat kommen, sagt die Magistratsperson. «Unsere Leute haben dann die notwendigen Informationen.» Von einer Befehlsausgabe zu reden, wäre freilich falsch, Ständeräte liessen sich ungern etwas vorschreiben. «Aber ich erhalte zugleich schon erste Rückmeldungen zu unseren Vorschlägen.»

GLP-Bundesrätin wäre mit Energiestrategie schon im Parlament gescheitert

Der Mitarbeiter eines anderen Bundesratsmitglieds weist darauf hin, man erhalte dank der Parteifreunde Rückmeldungen über die Diskussionen in den Kommissionen. Das erlaube es, die Entwicklung eines Geschäfts besser abschätzen und, falls nötig, frühzeitig eingreifen zu können.

Politologe Müller erläutert derweil, was es bedeuten kann, wenn Verbündete im Ständerat fehlen. «Die Hausmacht einer einzelnen Bundesrätin wird umso wichtiger, je stärker ein Projekt aus ihrem Departement kommt oder in der Öffentlichkeit damit assoziiert wird und je mehr Veränderungen gegenüber dem Status quo damit erstrebt werden.» Er nennt ein prominentes Beispiel: «Ich würde behaupten, die Energiestrategie, wie sie Doris Leuthard durchbrachte, würde Stand heute bei einer GLP-Bundesrätin schon im Ständerat Schiffbruch erleiden.» (aargauerzeitung.ch)

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15 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Grobianismus
22.08.2022 11:19registriert Februar 2022
Man könnte auch den Grünen und der GLP die beiden SVP-Sitze im Bundesrat geben. FDP & SP sind glücklich, weil sie keinen Sitz verlieren, Grüne und GLP sind glücklich, weil sie je einen Sitz erhalten, und SVP ist glücklich, weil sie ihre Oppositionspolitik endlich aus der Opposition betreiben können. Ausserdem darf die SVP dann in die Opferrolle schlüpfen, es gibt also nur Gewinner. :)
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