Schweiz
Gesellschaft & Politik

Keine Hochhäuser in Spreitenbach: 700 Personen überfordern Versammlung

Das Shopping-Center Tivoli in Spreitenbach, aufgenommen am 6. August 1975. (KEYSTONE/Str)
Da, wo 1970 das erste Einkaufszentrum der Schweiz gebaut wurde, spielte sich am Dienstagabend Historisches ab. Bild: KEYSTONE

«Noch nie erlebt!» Spreitenbach muss Gemeindeversammlung absagen – wegen Grossandrang

Rund 700 Stimmberechtigte wollten in der Aargauer Gemeinde abstimmen, mehr als die Turnhalle fassen kann. Deshalb musste die Gemeindeversammlung ins neue Jahr verschoben werden. Auslöser waren die Pläne für ein neues Quartier.
27.11.2019, 07:0527.11.2019, 10:35
Claudia Laube / ch media
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Da soll noch einer sagen, die Spreitenbacher seien abstimmungsfaul, so wie es in den Medien vor den (eidgenössischen) Parlamentswahlen im Oktober kolportiert worden war. Gar als Nichtwähler-Dorf war Spreitenbach bezeichnet worden. Die gestrige Gemeindeversammlung aber bewies das Gegenteil: 693 (von 4683) Stimmberechtigte überforderten die Kapazitäten der Turnhalle Boostock und so blieb Gemeindepräsident Valentin Schmid (FDP) kurz vor 20 Uhr nichts anderes übrig als die Versammlung abzusagen.

«Hier oben sind rund 575, in der unteren Turnhalle etwa 120 weitere Stimmberechtigte.»

Die untere Halle der Doppelturnhalle war aber für die Versammlung gar nicht eingeplant, die eigentlich um 19.30 Uhr angesetzt war. Doch um diese Zeit standen draussen immer noch Menschen Schlange, während es in der oberen Halle bereits keinen Platz mehr hatte. Schmids Absage quittierten die Anwesenden mit ungläubigem Lachen – und Applaus. «Das habe ich ja noch nie erlebt», war von einigen zu hören.

Was hat den Ansturm ausgelöst?

Die meisten Menschen waren wegen einem eigentlich eher technischen Traktandum gekommen: Der Teiländerung der Bau- und Nutzungsordnung (BNO), die aus der bisherigen Einkaufszone beim Shoppi Tivoli eine Wohn- und Einkaufszone machen soll. Diese würde einer grossen Veränderung den Weg ebnen: Dem «Zentrum Neumatt». Mitten in Spreitenbach soll ein neues Quartier entstehen, das die alten und neuen Quartiere miteinander verbindet und Spreitenbach ein neues Gesicht verleiht.

Das Zentrum würde dem Dorf mit vier fast 100 Meter hohen Türmen zudem die höchsten Hochhäuser im Kanton bescheren. Diese vier schmalen Wohnblöcke mit 600 Mietwohnungen und ein weiterer Bau mit 70 Eigentumswohnungen wären umrahmt von einem grossen Stadtpark und einem kleineren Stadtplatz. Dort, wo heute Asphalt und Beton dominieren, sollen dereinst die Menschen, die nach Spreitenbach kommen, freundlicher begrüsst werden.

Bild
visualisierung: spreitenbach.ch

Noch selten war in ein Projekt in Spreitenbach so viel Arbeit gesteckt worden wie in dieses Zentrum. Die letzten acht Jahre hat der Investor und Grundstückeigentümer, ein Immobilienfonds der Credit Suisse, viele Ressourcen dafür aufgewendet, um die Bevölkerung für das Zentrum zu begeistern. Mehrmals wurden Informationsveranstaltungen durchgeführt und Fragen beantwortet.

Auszug aus der Einladung an die Stimmberechtigten
«Als 1970 das erste Shoppingcenter der Schweiz die Türen öffnete, war die Gemeinde Spreitenbach Vorreiterin und Pionierin in der gesamten Schweiz. Damals sollte mit dem Center ein Paradies an Freizeitnutzungen und zahlreichen Angeboten für die lokale Bevölkerung und Besucher aus der ganzen Schweiz entstehen. Heute, knapp 50 Jahre später, soll das introvertierte Shoppingcenter, die Konsuminsel mit unzähligen oberirdischen Parkplätzen inmitten des Siedlungsgebietes, nachhaltig transformiert werden. Lange vernachlässigte Themen wie die Anbindung an den öffentlichen Verkehr, die Fuss- und Veloverbindungen durch das Areal und zum Dorf, die Schaffung eines hochwertigen Wohnungsangebots und die Verbesserung der Aufenthaltsqualität im geografischen Zentrum der Gemeinde sollen durch die Teiländerung Bau- und Nutzungsordnung (BNO) Neumatt ermöglicht werden.»
Quelle: spreitenbach.ch (pdf)

Was befürchten die Spreitenbacher?

Die Befürchtungen vieler Einwohner sind unter anderem, dass sich Spreitenbach mit den neuen Mietern doch wieder neue Probleme einbrockt statt, wie von der Gemeinde erwartet, gut verdienende Steuerzahler anzulocken. Auch die rege Bautätigkeit in Spreitenbach beschäftigt viele Einwohner. Diese gehört in Spreitenbach seit vielen Jahren zum Alltag – und das würde sich durch das Zentrum Neumatt auch in den nächsten zehn Jahren nicht ändern.

Inzwischen hat sich ein anonymes Nein-Komitee formiert, das Flyer verteilen liess, in denen alle negativen Punkte aufgezählt wurden. Auch auf Facebook wurde das neue Zentrum fleissig diskutiert. Auffällig hier vor allem die Befürworter, die sich diese Veränderung für Spreitenbach wünschen. Deshalb wurde dazu aufgerufen, an die Gemeindeversammlung zu gehen, um sich nicht von den älteren, eher kritisch eingestellten Stimmbürgern überstimmen zu lassen.

Diesem Ruf sind die Menschen offensichtlich gefolgt. «Wir haben geahnt, dass mehr Leute kommen werden als normalerweise», sagte Schmid. Das sind durchschnittlich 180 Stimmberechtigte. «Wir waren heute für rund 600 vorbereitet.»

Der Parkplatz und das Shopping-Center von Spreitenbach, aufgenommen am 22. April 1970. (KEYSTONE/Ruedi Rohr)
Der Parkplatz und das Shopping-Center von Spreitenbach, aufgenommen am 22. April 1970.Bild: KEYSTONE

Wie gehts weiter?

Diese Gemeindeversammlung wird als die bestbesuchte in die Geschichte Spreitenbachs eingehen, auch wenn sie nicht durchgeführt werden konnte. «Die Gemeindeversammlung, die bis jetzt am meisten Besucher hatte, war im Jahr 1986 mit 532 Stimmberechtigten», wusste Schmid zu berichten.

Die Gemeindeversammlung wird nun auf Mitte Januar 2020 verschoben. Wo sie stattfinden wird ist noch nicht ganz klar, sagt Schmid: «Spreitenbach hat leider keine Möglichkeit, in dieser Grösse eine Versammlung durchzuführen – ausser in der Umweltarena.» In der Facebook-Gruppe «Du bisch vo Spreitebach wenn...» wurde inzwischen bereits die Hoffnung geäussert, dass diese dann mit noch mehr Stimmbürgern getoppt werden kann.

(aargauerzeitung.ch)

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Das Ghetto Spreitenbach
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Die Bräusi-Vögel-Gugge in Spreitenbach. bild: watson
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Einer Stadt mit einer besonders geringen Wahlbeteiligung
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27 Kommentare
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homo sapiens melior
27.11.2019 08:14registriert Februar 2017
Das sieht nach einer schönen und v.a. grünen Verdichtung aus. Finde ich gut. Bin in der Nähe aufgewachsen und schlich als Kind auf Abenteuerpfaden durch die unterirdischen Gänge des unfertigen Einkaufzentrums.
Das aktuelle Spreitenbach mit den beiden Türmen und den endlosen Betonwüsten ist hässlich. Drum wäre die Realisierung dieser Idee eine echte Verbesserung. Es würde sicher auch besser zum schönen alten Teil des Dorfes passen.
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Scaros_2
27.11.2019 08:11registriert Juni 2015
Klassische Problemstellung. Den Status Quo nicht verändern. Bloss keine Veränderung. Alles soll so bleiben wie es ist. Und gefälligst soll auch niemand altern oder weiterentwickeln - es zerstört ja schliesslich den Status Quo.
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Kaoro
27.11.2019 07:21registriert April 2018
Spreitenbach ist eine Schattengemeinde. Im Winter ist ab 15.30h Schluss mit Sonne ab dem Kreisel Seefeld. Egal was die dort hinstellen, du bist auf der falschen Seite der Limmat, da will keiner hin, der gut verdient. Ausserdem ist der Steuerfuss mehr als 120%.
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