Die 14-jährige Marie* sitzt still am Tisch eines Gemeinschaftsraums einer Psychiatrie im Raum Zürich. Auf dem Sofa liest eine Frau Mitte vierzig Zeitung, ein Mann mit schütterem Haar trinkt Kaffee. «Als ich das Mädchen so sitzen sah, ging ich auf es zu, um es aufzuheitern, um ihm Gesellschaft zu leisten», erinnert sich die ehemalige Patientin Jasmin*. «Ich hatte Mitleid mit ihr. Was tat sie hier? Ein Mädchen in diesem Alter gehört in eine Kinder- und Jugendpsychiatrie, nicht in eine Klinik mit lauter Erwachsenen mit psychischen Problemen.»
Fälle wie dieser sind hierzulande keine Seltenheit. In Schweizer Psychiatrien fehlt es an Betten für minderjährige Patienten. So kommt es immer wieder vor, dass Kinder und Jugendliche notfallmässig in ungeeignete psychiatrische Institutionen überwiesen werden müssen, weil kein kindgerechter Platz vorhanden ist.
Daniel Müller, Sprecher der Luzerner Psychiatrie, sagt: «Bei den stationären Behandlungsplätzen haben wir vor allem im Akutbereich eine Unterversorgung. Kinder und Jugendliche, die nicht ins Kinderspital oder in unseren Therapiestationen als Notfälle aufgenommen werden können, müssen deshalb teilweise in der Erwachsenenpsychiatrie hospitalisiert werden.»
Auch die Klinik Sonnenhof in Gantenschwil SG kennt die Problematik. Hier stehen für den Normalbetrieb 39 Betten zur Verfügung. «Nur müssen in der Regel mehr als 40 Kinder und Jugendliche gleichzeitig betreut werden», sagte der Chefarzt der Klinik Ulrich Müller-Knapp letzten Sommer zur Zeitschrift «Beobachter».
Die Berner Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie hat ebenfalls mit Platzmangel zu kämpfen. «Für stationäre Behandlungen, die nicht notfallmässig erfolgen, gibt es eine lange Warteliste», so Chefarzt Michael Kaess.
Ein Grund für den Platzmangel in den Kliniken ist die Zunahme an Erkrankungen bei Minderjährigen. Laut neueren Studien sollen bis zu zehn Prozent der Kinder und Jugendlichen unter psychischen Störungen leiden, die eine Behandlung benötigen. Gemäss einer Untersuchung der Aachener Universitätsklinik entwickeln sich bei ganzen 20 Prozent der Heranwachsenden in der Pubertät psychische Auffälligkeiten.
Dies macht sich auch bei der Berner Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie bemerkbar. Hier haben sich die ambulanten Notfallaufnahmen in den letzten zehn Jahren verdreifacht. «Und auch im ersten Quartal 2018 zeigt sich im Vergleich zu letztem Jahr nochmals ein deutlicher Anstieg», so Chefarzt Michael Kaess.
Bereits eine 2016 erschienene Studie des Bundesamts für Gesundheit bestätigt den Mangel an geeigneten Plätzen. In der Schweiz gebe es eine «deutliche Unter- und Fehlversorgung» für psychisch kranke Kinder und Jugendliche, so das Fazit der Verfasser. Betroffen seien alle Regionen und Angebotsformen. Also Stadt und Land, ambulante und stationäre Therapieplätze.
Die Studie kritisiert, dass die kleinen Patienten deshalb in Einrichtungen für Erwachsene untergebracht werden. Das dortige Umfeld sei für sie ungeeignet. Ausserdem sei das medizinische Personal oft nicht geschult im Umgang mit Kindern. Denn während die jungen Patienten der Luzerner Psychiatrie auch in der Erwachsenenpsychiatrie von spezialisierten Sozialpädagogen für Minderjährige betreut werden, ist das bei weitem nicht überall so.
Welcher der jungen Patienten in einer Erwachsenenpsychiatrie platziert wird, entscheiden die Kliniken in erster Linie je nach Ausmass der Gefährdung. Dann wird das Alter der Patienten berücksichtigt. Je jünger der Minderjährige, desto eher kommt er in der Regel an einen altersgemässen Therapieplatz.
Deshalb müssten Jugendliche mit akuter Selbstgefährdung einen Platz in der Erwachsenenpsychiatrie in Kauf nehmen, so Daniel Müller der Luzerner Psychiatrie. Um dem entgegenzuwirken, gibt es in dieser Klinik seit rund vier Jahren eine Station mit vier Betten für Jugendliche. Es handelt sich jedoch nur um eine Übergangslösung, eine Akutstation für Kinder und Jugendliche ist geplant – die Nachfrage besteht.
Laut Michael Kaess der Berner Universitätsklinik für Kinder- und Jugendliche hängt der Platzmangel auch mit der Finanzierung der Kinder- und Jugendpsychiatrie zusammen. Denn die jungen Patienten zu betreuen, ist teuer: «Es braucht mehr Personal als in der Erwachsenenpsychiatrie, diverse Systeme und Umfelder müssen in die Therapie einbezogen werden.» Die Finanzierung von Krankenkassen und Kantonen decke diese Kosten in den meisten Fällen nicht gänzlich, sagt Kaess. So rechne sich die Kinder- und Jugendpsychiatrie für die Kliniken meist nicht.« Deshalb gilt es, das ganze System zu überdenken.»
Auch die Hotline der Pro Juventute stellt in den letzten sieben Jahren fest, dass immer mehr Kinder und Jugendliche wegen persönlichen Problemen Hilfe suchen. Am häufigsten zur Sprache kämen dabei Suizidgedanken. Danach Krisen, Angst und depressive Stimmungen. Über die Gründe wird spekuliert. Oft nennen Experten das Smartphone, der heutige Leistungsdruck oder die Welt der unbegrenzten Möglichkeiten, in der unzählige wichtige Entscheidungen getroffen werden müssen.
*Name der Redaktion bekannt.