Werner Streicher schwieg, als ihn die Ärzte untersuchten. Immer wieder sass er in einer ihrer Praxen. Als Kind, als Teenager, als Erwachsener. Seit seinem zehnten Lebensjahr litt er an Bauchschmerzen. Heftige Krämpfe, bohrende Stiche. Nachts hielten sie ihn vom Schlaf ab, tagsüber lenkten sie seine Gedanken ab. Die Ärzte rätselten, anatomisch fanden sie nichts. Auch nicht, als sie sich im Operationssaal über seinen Bauch beugten. Heute weiss er: Der Bauch war bloss der Ankerplatz für den Schmerz. Die eigentliche Wunde lag tiefer. Zugefügt von jener Person, die, wie er sagt, ihn extrem geliebt habe. Seine Mutter.
Werner Streicher wuchs als ältestes von sechs Kindern auf. Gegen aussen seien sie «die beste Familie der Welt» gewesen. Der heute 62-Jährige sitzt in einem Café in der Zentralschweiz, rührt im Kaffee. Das Haar dunkelgrau, der Blick hellwach. Er tritt offen und freundlich auf, bietet sofort das Du an. Ruhig und ohne zu stocken beginnt Werner Streicher von seiner Kindheit zu erzählen. Der Vater arbeitete als Lehrer, seine Mutter kümmerte sich um Haus und Kinder. Stockkatholisch sei er aufgewachsen und mit vielen Tabus. Nacktheit, Sexualität – das existierte im Alltag der Familie nicht. Scheinbar. Denn der Körper des Erstgeborenen übte auf die Mutter eine ganz besondere Anziehungskraft aus. Vor allem sein Penis.
Dass Kinder sexuell missbraucht werden, ist keine Seltenheit. Die Studie der UBS Optimus Foundation, die im vergangenen Sommer erschienen ist, zeigt: Im Erhebungszeitraum von drei Monaten wurden bei Schweizer Einrichtungen, die sich des Kinderschutzes annehmen, 940 Fälle gemeldet. Hochgerechnet bedeutet dies, dass pro Jahr von 10'000 Kindern 20 bis 30 sexuellen Missbrauch erleben.
Ein Teil dieser Opfer kommt ins Spital. Die dort gesammelten Zahlen der Fachgruppe Kinderschutz der schweizerischen Kinderkliniken zeigen: Fast 40 Prozent der sexuellen Übergriffe finden in der Familie statt. Und: Die Mehrheit der Täter sind Männer. Im Jahr 2017 meldeten die Kliniken lediglich 12 Täterinnen. Von insgesamt 271 Missbrauchsfällen. Das sind die aktuellsten Zahlen.
Stellen Frauen also einen verschwindend kleinen Anteil dar? Markus Wopmann, Leiter der Fachgruppe Kinderschutz, verneint. Er warnt vor zu raschen Rückschlüssen: «Die Diskrepanz zwischen unseren Zahlen und jenen von internationalen Studien ist gross.» Insbesondere Erhebungen unter Erwachsenen lassen eine hohe Dunkelziffer vermuten.
«Wir müssen davon ausgehen, dass bis zu 20 Prozent der sexuellen Übergriffe von Frauen begangen werden», sagt Wopmann. Viele der Fälle kämen nicht ans Licht. Insbesondere, wenn sie im familiären Kontext geschähen. «Allein der Gedanke daran, dass eine Frau oder gar Mutter so etwas tut, wird oft gar nicht zugelassen», sagt Wopmann. Das wirkt sich auch auf die Betroffenen aus. «Für Buben ist ein Missbrauch durch eine Täterin noch schambesetzter als durch einen Täter.»
Wopmann arbeitet als Chefarzt der Klinik für Kinder und Jugendliche am Kantonsspital Baden und weiss: Brechen die jungen Opfer ihr Schweigen, prägt das Geschlecht der Täterschaft weiterhin die Wahrnehmung der Erwachsenen. So würde Kindern deutlich weniger geglaubt, wenn sie von einer Täterin statt eines Täters berichteten, sagt Wopmann.
Ein weiterer Grund dafür könnte in der Art der Übergriffe liegen. Wopmann sagt, dass er nie einen Fall erlebt habe, in dem eine Einzeltäterin mit Gewalt und Brutalität ein Kind missbraucht habe. «In der Regel überschreiten Frauen mit Liebkosungen und einer zu grossen körperlichen Nähe die Grenzen», sagt der Arzt. Etwa jene alleinerziehende Mutter, die mit ihrem Sohn im gleichen Bett geschlafen und ein immer intimeres Einschlafritual mit ihm praktiziert hatte – indem das anfänglich harmlose Streicheln über den Arm zu Berührungen im Intimbereich führte.
Wie subtil Frauen bei sexuellen Übergriffen vorgehen, zeigt auch der Fall von Werner Streicher. Von klein auf sagte ihm seine Mutter, dass seine Vorhaut verengt sei. Um sie zu dehnen, brauche es «Übungen». Die durfte nur sie durchführen. «Kam es zu einer Erektion, genoss sie das sichtlich», sagt Streicher. Diese Übergriffe dauerten bis zu seinem 14. Lebensjahr. Dann erfuhr er von einem Arzt, dass er gar keine Vorhautverengung habe. Das sei kein Einzelfall, sagt Rechtspsychologin Monika Egli-Alge. «Sexuelle Übergriffe von Frauen, und insbesondere von Müttern, finden oft in einem pflegerischen Kontext statt», sagt die Gründerin von Forio, dem Forensischen Institut Ostschweiz.
Den Grund dafür sieht sie in einem starken Geschlechtermythos. «Mütter und Frauen gelten per se als aufopfernd und liebevoll. Dass einige auch destruktive Seiten aufweisen, gilt als eher ausgeschlossen.» Niemand hinterfrage die Pflege und Fürsorge einer Mutter. «Das ist ihre Domäne», sagt Egli-Alge.
Diese Überhöhung wirke sich stark auf die Opfer aus. «Viele reden sich ein, dass die Handlungen tatsächlich notwendig sind – denn es ist ja die Mutter, die sie vornimmt», sagt Egli-Alge. Die Irritation bei den betroffenen Kindern sei riesig und die Aufarbeitung ein eigentliches Lebenswerk, sagt die Psychologin.
Erschwerend komme hinzu, dass auch Fachleute in die Geschlechterfalle treten würden: «Selbst Polizisten oder Gutachter haben Mühe, Täterinnen zu identifizieren. Bei sexuellem Missbrauch stehen fast nur die Männer im Fokus», sagt Egli-Alge. Für sie ist klar: «Die Thematik von sexuell übergriffigen Müttern ist bis heute ein grosses Tabu.»
Diese Meinung teilt Kinderarzt Wopmann: «Es gilt bis heute als unvorstellbar, dass Frauen durch Kinder sexuell erregt werden.» Vielmehr neigen auch Angehörige dazu, auffälliges Verhalten herunterzuspielen. «Wir hören dann Ausflüchte wie: ‹Da ist doch bloss ihre Hand verrutscht›», sagt der Arzt. Er erinnert sich an einen Vater, der seinen Verdacht geäussert hatte. Daraufhin wandte sich die Familie gegen ihn; er wolle seiner Frau bloss schaden.
Dieses Verdrängen und Negieren macht es für die Betroffenen noch schwerer, über den Missbrauch zu sprechen. Auch Werner Streicher vertraute sich jahrzehntelang niemandem an. Je älter er wurde, umso deutlicher zeigte sich, dass die Liebe der Mutter im wahrsten Sinne grenzenlos war. Doch er schwieg, selbst als er mit seiner ersten Frau eine Familie gründete und ihn durch die Nähe zu ihr Bilder der Vergangenheit einholten.
Der Ekel, die Bauchschmerzen: Sie begleiteten ihn weit ins Erwachsenenalter. Obwohl er verheiratet war, forderte die Mutter weiterhin Küsse von ihm ein. «Habe ich sie nicht erwidert, wurde sie richtig sauer», sagt der 62-Jährige. Er fühlte sich ohnmächtig und ausgeliefert. «Ich habe mich unendlich geschämt, dass ich mich nicht wehren konnte», erinnert er sich.
Heute sei ihm klar, er sei in einer Rolle gefangen gewesen; «Der liebe Werner, der seiner Mutter Halt und Trost im Leben gibt.» Denn sie erlitt in jungen Jahren schwere Schicksalsschläge, wuchs ohne Vater auf und verlor ihre Brüder im Krieg. In der späten Ehe seiner Eltern habe dann die Liebe gefehlt: «Ihren Traumprinzen fand sie erst, als ich zur Welt kam», sagt Streicher.
Neben der vorherrschenden Scham prägte ein weiteres Gefühl seine Kindheit und Jugend: die Schuld. «Ich fühlte mich schuldig, dass meine Mutter mich als Partnerersatz brauchte. Aber auch dafür, dass mein Vater mit Gewalt auf mich reagierte.» Anders als seine Geschwister traktierte er den Erstgeborenen mit Prügeln. Als Lehrer stellte sein Vater ihn zudem vor der ganzen Klasse bloss: «Das war wohl sein unbewusster Umgang damit, dass ich an seiner Stelle die Liebe und Zuwendung seiner Frau erhielt», sagt Streicher rückblickend.
Lange Zeit sprach er mit niemandem darüber. Im Alter von 38 Jahren konnte er nicht mehr: Ein Burnout riss ihn aus dem Alltag. Nachdem sich der Schmerz Jahr für Jahr tiefer in seinen Bauch gebohrt hatte, war nun auch die Psyche ausgebrannt. In einer Therapie lernte Werner den Missbrauch als solchen zu benennen – und langsam zu verarbeiten. «Ich merkte, dass ich im Zustand der Verletzlichkeit nicht ausharren muss», sagt er. Intensiv begann er, sich mit der Thematik zu beschäftigen, und bildete sich beruflich weiter. Inzwischen arbeitet Streicher als Coach und begleitet Menschen, die sexuellen Missbrauch erlebt haben.
Er selber war nach 15 Jahren Therapie so weit, dass er seine Eltern mit den Übergriffen konfrontieren konnte. Die Reaktion des Vaters überraschte ihn: «Er war erschüttert. Nächtelang sprachen wir uns aus. Zum ersten Mal überhaupt führten wir solch persönliche Gespräche.» Und die Mutter? «Sie konnte meinen Vorwurf weder nachvollziehen noch annehmen», sagt Streicher. Die Mutter verstarb – ohne ein Wort der Entschuldigung. Das sei für ihn nicht zentral, sagt er. Viel wichtiger sei, dass er sich noch zu Lebzeiten von ihr abgrenzen konnte. Das habe viel geändert. Auch seine Bauchschmerzen sind seither verschwunden. (aargauerzeitung.ch)