Hohe Krankenkassenprämien sind in der Schweiz der zweithäufigste Grund für Schulden – direkt nach den Steuern. Gerät eine versicherte Person wegen nicht bezahlter Rechnungen in einen Teufelskreis, landet sie nicht selten in der Schuldenfalle und endet schliesslich in der Armut.
Um die Belastung durch die Krankenkassenprämien abzufedern, schaffte der Bund 1994 ein Instrument: Die Prämienverbilligung. Menschen mit tiefen Einkommen sollte damit unter die Arme gegriffen werden. Theoretisch. In der Realität zeigt sich allerdings, dass das System erhebliche Mängel aufweist.
Denn viele Versicherte, die Anspruch auf eine Prämienverbilligung haben, machen diesen nicht geltend. Oftmals handelt es sich bei diesen Personen just um solche, die sowieso schon finanziell schlecht dastehen und den Zustupf bitter nötig hätten.
Mitarbeiter von sozialen Institutionen beobachten dieses Problem schon lange. Stephan Hochuli, Co-Leiter im Kafi Klick, ein Internetcafé und Anlaufstelle für armutsbetroffene Menschen in Zürich, sagt: «Immer wieder muss ich unseren Besucherinnen und Besuchern erklären, dass sie ein Anrecht auf eine individuelle Prämienverbilligung haben. Oftmals wissen sie nicht einmal, was das genau ist.»
Ähnliche Erfahrungen machen die Mitarbeiter von Caritas. Sandra Rauch, Sprecherin von Caritas Zürich, sagt: «Leider beziehen nicht alle eine Prämienverbilligung, die Anspruch darauf haben. Gründe dafür sind zum Beispiel Scham oder fehlendes Wissen.» Es sei kompliziert, weil sich die Praxis von Kanton zu Kanton unterscheide.
Auch zu Asya Adir kommen immer wieder Menschen in die Beratung, die nicht wissen, dass sie eine Prämienverbilligung beantragen können. Sie leitet die Sozialberatung des Sozialwerks Pfarrer Sieber. «Manche Kantone schicken noch nicht einmal ein Antragsformular nach Hause. Wer nicht weiss, dass er das zu Gute hat, bekommt nichts – eine extreme Belastung für das Budget.»
Wie viele Menschen in der Schweiz Anspruch auf eine Prämienverbilligung haben, diese aber nicht beziehen, ist unbekannt. Schweizweite Zahlen zum Anspruch von Prämienverbilligung existieren nicht. Der Bund erfasst in seiner Statistik einzig die Zahl der tatsächlichen Bezüger. Im Jahr 2017 erhielten demnach 2,2 Millionen Personen eine Prämienverbilligung. Davon waren 710'000 Personen Bezüger von Ergänzungsleistungen oder Sozialhilfe, sprich sie mussten keinen Antrag auf Prämienverbilligung stellen, sondern die Zahlung wurde direkt über die entsprechende Kasse abgerechnet. Das ist insofern relevant, weil diese Personen nicht von dem komplizierten Antragsverfahren betroffen sind.
Eine Umfrage von watson zeigt, dass selbst die einzelnen Sozialversicherungsämter kaum wissen, wie viele Personen im Kanton theoretisch Anspruch auf Prämienverbilligung hätten. Nur einzelne Kantone erfassen diese Zahlen und gewähren so zumindest ein bisschen Einblick in die Tragweite des Problems.
So ermittelte der Kanton Schwyz für das Jahr 2017 35'553 Personen, die anspruchsberechtigt waren. Tatsächlich eine Prämienverbilligung erhalten haben 26'122 Personen. Das heisst, 27 Prozent aller Personen, die theoretisch Anspruch auf eine Prämienverbilligung hatten, erhielten keine.
Auf die Frage, warum sich die Zahl der Anspruchsberechtigten nicht mit jener der effektiv ausgerichteten Prämienverbilligungen deckt, heisst es bei der Ausgleichskasse des Kantons Schwyz: «Ein Teil hat wohl das Formular nicht abgeschickt, bei einem weiteren haben sich die Steuerdaten verändert, vielleicht gab es einen Todesfall, vielleicht sind sie weggezogen. Das sind alles Faktoren, die es zu berücksichtigen gibt.»
Die Erfahrungen der Sozialberater ähneln sich: Der Zugang zur Prämienverbilligung wird durch hohe Hürden erschwert. Einer der Gründe dafür ist der typisch schweizerische Föderalismus. Zwar ist die Prämienverbilligung über das nationale Krankenversicherungsgesetz geregelt. Doch wie dieses ausgestaltet wird, liegt in der Hand der Kantone. Sie können entscheiden, wer zu solchen Beiträgen berechtigt ist, wie hoch diese sein sollen und wie kompliziert das Antragsverfahren ist.
In einigen Kantonen läuft das Verfahren automatisch ab. Anhand der Steuerdaten wird geprüft, ob die versicherte Person Anspruch auf Prämienverbilligung hat oder nicht. In den Kantonen Basel-Stadt, Luzern und Graubünden muss selbstständig aktiv werden, wer eine Prämienverbilligung beantragen will. Andere Kantone benachrichtigen die Versicherten individuell mit einem Formular, das diese ausfüllen und einreichen müssen.
Doch selbst in den Kantonen, wo die Versicherten individuell über die Prämienverbilligung benachrichtigt werden, bestehen Lücken. Rauch von Caritas Zürich sagt: «Im Kanton Zürich erhalten Personen mit tiefen Einkommen aufgrund ihrer Steuerveranlagung ein Antragsformular auf individuelle Prämienverbilligung. Personen, deren Einkommenssituation sich plötzlich verschlechtert, müssen jedoch selbst aktiv werden.» Die Bearbeitung könne mehrere Monate dauern. In dieser Zeit müssten die bisherigen Prämien weiter bezahlt werden. «Für die Armutsprävention sind dies grosse administrative Hürden», so Rauch.
Verena Della Picca von der Gewerkschaft Basis 21 kritisiert, dass die Antragssteller von sich aus aktiv werden müssen, obwohl sie per Gesetz Anrecht auf das Geld hätten. Sie sagt: «Vor allem migrantische Personen, die nicht gut genug Deutsch können, wissen nicht, dass sie eine Prämienverbilligung beantragen können.» Besonders stossend findet Della Picca, dass in manchen Kantonen, wie beispielsweise Solothurn, die Prämienverbilligung nach Ablauf einer entsprechenden Frist nicht mehr bezogen werden kann.
Neben dem Kanton Solothurn gibt es solche Eingabefristen in den meisten Kantonen. Nach Ablauf der Frist ist eine Gesuchseingabe nicht mehr möglich oder nicht mehr rückwirkend auf das gesamte Jahr. Nur in den Kantonen Basel-Stadt, Basel-Land, Graubünden und Aargau können die Anträge jederzeit eingereicht werden.
«Die Prämienverbilligung erfüllt ihren Zweck, nämlich Haushalte knapp über der Armutsgrenze zu entlasten, immer weniger», sagt Martin Jucker von der Caritas Schweiz. Kurze Fristen und mangelnde Informationen führten nicht nur zu Ungleichbehandlung, sondern brächten jährlich zahlreiche Menschen nahe der Armutsgrenze um ihr Recht auf Unterstützung.
Zusätzlich gravierend sei, dass die Prämienverbilligungen in den meisten Kantonen in den letzten Jahren gesunken seien. «Schweizweit wurden 2017 weniger Prämienverbilligungen ausbezahlt als noch vor sechs Jahren. Diese Entwicklung steht im Widerspruch zu den steigenden Krankenkassenprämien», so Jucker.
Tatsächlich passen die Kantone ihre Beiträge den steigenden Prämien nicht mehr an. Im Zuge kantonaler Sparmasssnahmen wurde der Beitrag an die Prämienverbilligung vielerorts gar gekürzt. So sehr, dass nun einigen Kantonen Klagen drohen. Bereits vom Bundesgericht gerügt wurde dieses Jahr der Kanton Luzern. Es entschied, dass die Einsparungen bei den Prämienverbilligungen zu hoch ausfielen.
Jucker fordert, das System müsse korrigiert werden. Beispielsweise indem die maximale Haushaltsbelastung abgestuft nach Einkommen gesetzlich fixiert wird. Asya Adir vom Sozialwerk Pfarrer Sieber würde es zudem begrüssen, wenn die Gemeinden verpflichtet wären, die Versicherten anständig über ihre Rechte zu orientieren.
Gerade in Kantonen mit vielen Anspruchsberechtigten lohnt sich dieses Vorgehen finanziell.
Aber vielleicht wird dies wie beim Klimawandel. Fehlt nur noch ein Köppel der sagt, dass das Gesundheitssystem von liberalen Politiker kontrolliert wird und nur wegen der Zuwanderung so teuer wird.