Schweiz
Gesellschaft & Politik

Heirat mit Ausländern: Schweizerinnen verloren Bürgerrechte

Tausende Schweizerinnen verloren bis 1952 ihre Bürgerrechte, weil sie Ausländer heirateten

Schweizerinnen, die einen Ausländer ehelichten, mussten bis in die 50er-Jahre ihren Pass abgeben. Das konnte existenzbedrohend sein.
14.07.2019, 20:4515.07.2019, 08:55
Annika Bangerter / ch media
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Als die gebürtige Schweizerin Elsa mit ihren zwei Kindern in Italien ankam, wütete der Zweite Weltkrieg. Ausser in Elsas Heimat. Doch dorthin, zu ihrer Familie und in ihr vertrautes Umfeld, durfte sie nicht zurück. Die Schweiz hatte die junge Mutter verbannt. In ein Land, dessen Sprache sie nicht verstand, in ein Land, in dem sie niemand kannte. Nicht nur Elsas zweijährige Tochter und ihr neunjähriger Sohn waren in der Schweiz zur Welt gekommen. Auch Elsa. Ihr Schweizer Bürgerrecht verlor sie jedoch, als sie ihren Mann heiratete. Denn er war italienischer Staatsbürger.

Wie Elsa erging es Zehntausenden von Schweizerinnen, die einen Ausländer ehelichten. Mit der Trauung mussten sie bis 1952 die Schweizer Staatsangehörigkeit abgeben und das Bürgerrecht ihrer Ehemänner annehmen. Welche Folgen dies für die Frauen haben konnte, zeigt die Historikerin Silke Margherita Redolfi auf. In ihrem eben erschienenen Buch «Die verlorenen Töchter» beschreibt sie, wie Betroffene der Willkür von Ämtern ausgeliefert waren. Es ist ein beklemmendes Werk, das nicht nur einzelnen Frauen eine Stimme gibt, sondern auch die historischen Hintergründe aufarbeitet.

Die Künstlerin Sophie Taeuber verlor ihr Schweizer Bürgerrecht, als sie Hans Arp heiratete.
Die Künstlerin Sophie Taeuber verlor ihr Schweizer Bürgerrecht, als sie Hans Arp heiratete. bild: Chronos-Verlag

Mehr als 85 000 Schweizerinnen waren zwischen 1885 und 1952 von einem solchen Nationalitätenwechsel betroffen. Bis in die 1920er-Jahre war diese Heiratsregel in Europa weit verbreitet: Die Niederlassung und der Aufenthalt von Ehefrauen waren an die Staatsangehörigkeit ihrer Männer geknüpft. Doch während Staaten wie Belgien, Frankreich oder die skandinavischen Länder in den 1920er-Jahren den Bräuten zugestand, ihre Staatsangehörigkeit in die Ehe zu bringen, verschärfte die Schweiz 1941 die Heiratsregel. Per Notrecht, im Zuge der nationalen Abwehr im Zweiten Weltkrieg.

Ausgeschafft wegen Armut oder Krankheit

Mehr als die Hälfte der ehemaligen Schweizerinnen blieben trotz neuer Staatsangehörigkeit mit ihren Partnern in der Schweiz. Sie wurden zu Ausländerinnen im eigenen Land. Auch Elsa, deren Glück nicht lange hielt. Ihr Mann Jakob machte Schulden, trank und schlug seine Frau. 1935 wies ihn der Kanton Glarus «wegen Arbeitsscheu, Müssiggang und liederlichem Lebenswandel» weg. Die Familie zog in den Kanton Zürich, der sechs Jahre später Jakob des Landes verwies. Aus «fremden- und armenpolizeilichen Gründen». Elsa und die Kinder blieben. Vorerst. Als sie die Schulden ihres Mannes beglichen hatte, bekam sie einen Brief: Darin stand, dass die Behörden sie als «nicht existenzfähig» erachteten – und verwiesen sie ebenfalls des Landes.

Elsa war kein Einzelfall. Das zeigt die Historikerin Redolfi in ihrer Untersuchung. Sie hält fest: «Nur wer ein Leben in einem angepassten Rahmen führte, wer nicht weiter auffiel und keine Sozialkosten verursachte, konnte in der Schweiz eine relativ gesicherte Existenz haben.» Doch selbst bei verhältnismässig guten Voraussetzungen erlebten die früheren Schweizerinnen Ächtung und Diskriminierungen. Etwa jene Medizinstudentin, die nach der Heirat mit einem Franzosen als Ausländerin nicht mehr zu den Prüfungen zugelassen war. Wer zudem als Juristin, Polizistin oder Fürsorgerin arbeiten wollte, brauchte das Schweizer Bürgerrecht. Die Heirat mit einem ausländischen Mann führte zu einem faktischen Berufsverbot.

Elise mit ihrem Sohn um 1918. Die gebürtige Thurgauerin kam in der nationalsozialistischen Psychiatrie um.
Elise mit ihrem Sohn um 1918. Die gebürtige Thurgauerin kam in der nationalsozialistischen Psychiatrie um. bild: Chronos-Verlag

Der Umgang mit den betroffenen Frauen offenbarte: Sie waren fortan nicht mehr erwünscht. Lebten die ausländischen Bräutigame nicht bereits in der Schweiz, wurden die Paare ins Ausland abgedrängt. Denn die Einreiseanträge der Bräutigame schmetterten die Behörden meist ab. Anders bei Schweizer Männern. Sie konnten mit ihren ausländischen Gattinnen problemlos in die Schweiz einreisen.

Es zählte die Staatsangehörigkeit auf dem Papier. Ausländische Frauen wurden durch die Heirat eingebürgert; ausgebürgerte Schweizerinnen und ihre Männer vergrösserten hingegen die Gruppe der Ausländer.

Die Heiratsregel zerstörte auch Existenzen oder gar Leben. Insbesondere im Zweiten Weltkrieg nahm die Regelung menschenverachtende Züge an, hält Historikerin Redolfi fest. «Heimschaffungen» hiess das Instrument, das den Schweizer Behörden ermöglichte, unliebsame Personen an die Grenze zu stellen. Wegen unsittlicher Lebensführung. Wegen Armut. Wegen Krankheit. Die Behörden schreckten selbst dann nicht vor Abschiebung zurück, wenn die gebürtigen Schweizerinnen das Heimatland ihres Mannes noch nie betreten hatten.

Ein besonders düsteres Kapitel, das Redolfi beleuchtet, ist jenes von psychisch kranken Frauen. Damit sie – wie arme Familien – den Gemeinden nicht zur Last fielen, wurden sie teilweise abgeschoben. Zum Beispiel Maria. Die Bündnerin hatte den Italiener Rodolfo geheiratet und lebte mit ihm und den fünf Kindern zuletzt in Churwalden GR. Die Familie war mittellos und zeitweise auf Unterstützung angewiesen. Rodolfo verstarb jung. Zwölf Tage nach seinem Tod holte ein Polizist Maria ab und brachte sie in eine psychiatrische Klinik. Wie aus den Akten hervorgeht, sei sie durch den Verlust ihres Mannes «nicht mehr recht in Kopfe». Die fünffache Mutter wehrte sich gegen die fürsorgerische Zwangsmassnahme. Vergeblich. Obwohl die Klinik vorerst von einer Abschiebung abriet, drängte der Pfarrer dazu. Die Gemeinde sollte durch Maria finanziell nicht «allzu sehr belastet werden». Inzwischen hatte ihr Vormund jedoch den Antrag auf Wiedereinbürgerung gestellt.

Das war ab 1903 möglich. Damit die Frauen ihre frühere Staatsangehörigkeit wieder bekommen konnten, mussten sie verwitwet oder geschieden sein und nach wie vor in der Schweiz leben. Auch ihre Kinder erhielten dadurch den Schweizer Pass. Einen rechtlichen Anspruch gab es allerdings nicht; der Bundesrat bezeichnete die Wiedereinbürgerung als «Rechtswohltat». Dennoch machten Zehntausende von Frauen davon Gebrauch: Pro Jahr wurden durchschnittlich mehr als 8oo Personen wieder eingebürgert.

Bei Maria liessen die Behörden keine Gnade walten. Ihr Gesuch lehnten sie ab. Sie wurde mit ihrer neunjährigen Tochter, die ebenfalls als «schwachsinnig» galt, nach Italien in eine Nervenheilanstalt abgeschoben. Die vier anderen Kinder verdingten die Behörden vermutlich. Oder wie es der Pfarrer festhielt: Sie wurden «so versorgt, dass sie niemandem zur Last fallen».

In den Konzentrationslagern ermordet

Der Umgang mit missliebigen Frauen riss nicht nur Familien auseinander. Einige Frauen bezahlten sogar mit ihrem Leben. Etwa die gebürtige Thurgauerin Elise. Sie lebte mit ihrem deutschen Mann in Bischofszell, als sie psychisch schwer erkrankte. Zwölf Jahre lang war sie in einer Klinik in Reichenau bei Konstanz untergebracht. Als die Ärzte sie als geheilt einstuften und 1934 entlassen wollten, verweigerte ihr die Fremdenpolizei die Einreise. Der Grund: Weitere «Störungen» seien nicht ausgeschlossen und somit auch die «Inanspruchnahme der öffentlichen Wohltätigkeit».

Elise stellte für die Behörden ein finanzielles Risiko dar, das sie nicht eingehen wollten. Obwohl ihr minderjähriger Sohn und ihr Mann in der Schweiz lebten und Verwandte sich für Elise stark machten. Die Konsequenzen des Entschlusses waren fatal: Die gebürtige Thurgauerin geriet in die Fänge der nationalsozialistischen Psychiatrie. Da sie wohl noch arbeitsfähig war, überlebte sie vorerst. Später wurde sie in die Klinik eines berüchtigten Nazi-Psychiaters verlegt, wo sie vermutlich verhungerte.

Doch Elise ist nicht die einzige gebürtige Schweizerin, die durch den Verlust ihres Bürgerrechts im Dritten Reich getötet wurde. Auch jüdische Frauen mit Schweizer Herkunft starben in den Konzentrationslagern der Nationalsozialisten. Zum Beispiel Lea, die als Schweizerin in Buenos Aires und Zürich aufwuchs. 1937 heiratete sie den Franzosen Ernest und zog zu ihm nach Nancy. Sämtliche Versuche ihrer Familie scheiterten, Lea nach dem Einfall der Deutschen in die Schweiz zurückzubringen. Die Historikerin Redolfi hält fest: «Der Verlust des Bürgerrechts führte dazu, dass sie keinen diplomatischen Schutz der Schweiz beanspruchen konnte und ihren Schergen – mit Wissen der Schweizer Behörden – ausgeliefert war.» Lea und ihr Sohn wurden in Auschwitz ermordet, ihr Mann Ernest im KZ Mauthausen.

«Die verlorenen Töchter»
Die Historikerin Silke Margherita Redolfi beschreibt im Buch einzelne Schicksale und die Hintergründe der ausgebürgerten Schweizerinnen. Chronos-Verlag, 2019, S. 456, Fr. 48.–. (aargauerzeitung.ch)
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34 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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wasihrnichtsagt
14.07.2019 21:07registriert April 2018
Unglaublich, das ist leider nur eine der vielen dunklen Geschichten wie auch die Verdingkinder,... schön das man das langsam aufarbeitet. Vielleicht sollte man sich solche Geschichten vor Auge halten wenn man wiedermal sehr schnell am Fremdbeurteilen ist.
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Gulasch
14.07.2019 21:51registriert März 2014
Exzellenter Artikel, hässliche Schweizer Geschichte, danke fürs Augen öffnen!
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Baba ♀️
14.07.2019 22:10registriert Januar 2014
Erschütternd! Und wieder spielen Kirchenmänner eine mehr als dunkle Rolle 🤬.

Zitat: "[...]Obwohl die Klinik vorerst von einer Abschiebung abriet, drängte DER PFARRER dazu.[...]" - "[...]Oder wie es der Pfarrer festhielt: Sie [die vier Kinder] wurden «so versorgt, dass sie niemandem zur Last fallen».[...]"

Wenn es eine Hölle geben sollte, sollen solche Typen da schmoren! Und jene Behörden, die sich den Frauen gegenüber so kaltherzig zeigten gleich mit.
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