Demokratie sei lausig, aber von allen lausigen Politsystemen immer noch das beste, lautet sinngemäss ein legendäres Zitat von Winston Churchill. In der Schweiz hat sich zusätzlich ein weiterer Konsensus eingestellt: Unsere direkte Demokratie in Kombination mit einem Kantönli-Föderalismus ist zwar immer noch lausig, aber trotzdem nicht zu toppen. Schliesslich sind wir wohlhabend und am besten durch die Krise gekommen, wir ächzen nicht unter einer ausser Kontrolle geratenen Staatsschuld, und seit der überwältigenden Ablehnung der Ecopop-Initiative stehen wir nicht mehr unter permanentem Rassismus-Verdacht und sind teilweise rehabilitiert.
Selbst in der paradiesischen Schweiz werden jedoch zunehmend kritische Stimmen laut. Führt die Flut von Volksinitiativen nicht langsam in eine Diktatur des Mobs? Wird nicht das System blockiert, weil die politische Mitte ausgehöhlt wird und die Extremisten auf beiden Seiten nicht den Kompromiss, sondern die Konfrontation suchen?
Macht uns China nicht vor, dass ein gemässigter und sanfter Autoritätsstaat in Kombination mit einem gelenkten Kapitalismus besser geeignet ist, die Probleme des 21. Jahrhunderts zu lösen?
Diese Zweifel manifestieren sich in den letzten Monaten in Form von Büchern. Vor allem Journalisten legen sich ins Zeug. Das Trio Matthias Daum, Ralph Pöhne und Peer Teuwsen hat mit «Wer regiert die Schweiz?» vor- und die welsche Journalistin Joëlle Kuntz mit «Die Schweiz – oder die Kunst der Abhängigkeit» nachgelegt. Jetzt ist Stefan Howald an der Reihe. Sein soeben veröffentlichtes Buch trägt den Titel «Volkes Wille?»
Stefan Howald ist eine feste Grösse der linksintellektuellen Szene. Seine journalistische Karriere hat er einst beim «Tages-Anzeiger» begonnen, heute ist er Redaktor bei der «Wochenzeitung». Gleichzeitig schreibt er nicht nur Bücher, er übersetzt und redigiert auch welche.
Bei allen wichtigen linken Schweizer Publikationen der letzten Jahrzehnte dürfte er irgendwann und irgendwie seine Finger im Spiel gehabt haben. Sein jüngstes Baby ist die Internetseite www.theoriekritik.ch, wo Bücher vorgestellt und diskutiert werden. Kurz: Gäbe es heute noch so etwas wie einen Universalgelehrten, dann würde er Stefan Howald heissen.
Sein Universalwissen prägt auch «Volkes Wille?». Zu sagen, das Buch behandle eine breite Themenpalette, wäre die Untertreibung des Jahres. Sie reicht vom Secondo-Rapper aus Dietikon bis hin zum geplanten Freihandelsabkommen zwischen Europa und den USA; vom Europa der Regionen bis zum neuesten Martin-Scorsese-Film «Der Wolf der Wall Street»; vom Zürcher Realutopisten PM bis zur Troika in Griechenland und «Empire», dem Kultbuch der beiden Politphilosophen Michael Hardt und Antonio Negri –, und das ist nur eine kleine und zufällige Auswahl.
Howald geht es jedoch nicht darum, sein Wissen vorzuführen. Dazu ist er viel zu bescheiden. Er will aufzeigen, warum selbst die ach so vorbildliche Schweizer Demokratie erneuert werden muss. Warum binden wir Ausländer wenigstens auf Gemeindeebene nicht stärker ein? Weshalb ist Demokratie in der Wirtschaft nach wie vor ein Fremdwort? Die Antwort auf den Rechtspopulismus und den Wutbürger kann kein linkes Gegenstück sein, sondern eine popular-demokratische Politik, die an die Vernunft und die Postulate der Aufklärung anknüpft.
«Ich würde der Linken daher raten, in den nächsten drei Jahren keine Volksinitiative zu lancieren», sagt Howald. «Dieses Instrument hat sich verbrannt.»
Linker Populismus ist in dieser Sichtweise ein Widerspruch in den Begriffen. Demokratie muss als Prozess begriffen werden, in den möglichst alle eingebunden werden müssen, lautet Howalds zentrales Anliegen. Als Kronzeugen zitiert er David Graeber, Ethnologe und Aktivist der Occupy-Bewegung: «Demokratie wäre also unsere Fähigkeit, als vernunftbegabte Menschen zusammenzukommen und zu versuchen, die entstehenden gemeinsamen Probleme zu lösen.»