Die Grübchen in den Wangen sind ihr geblieben, ansonsten sieht die heute 19-jährige Esra* komplett anders aus: Über der schlichten Bluse trägt sie ein beiges Jackett, enge Jeans betonen die schlanken Beine, an den Füsse trägt sie elegante Absatzschuhe. Die langen, braunen, zu einem hohen Pferdeschwanz gebundenen Haare reichen ihr bis zur Taille. Die schlichten Perlenstecker in den Ohren passen zum dezenten Make-up.
Auch ihr 20-jähriger Bruder Vedad* ähnelt mehr einem städtischen Hipster, denn einem, der sich aufmachte, um in Syrien in den Dschihad zu ziehen. Die schwarzen Haare hat er am Hinterkopf zu einem Bürzi gebunden, der Bart ist auf eine modische Länge gestutzt, über dem weissen T-Shirt trägt er eine schwarze Jacke, die blauen Jeans sind bis zu den nackten Knöcheln hochgerollt, die Füsse stecken in weissen Converse-Turnschuhen.
Die Fotos, die Ende 2014 von Esra und Vedad auftauchen, scheinen zwei komplett andere Menschen zu zeigen: Das Mädchen ist in einen langen schwarzen Schleier gehüllt, der einzig das Gesicht mit den hübschen Grübchen freilässt. Der Junge sitzt, verschmitzt lächelnd, auf einem Sofa. Der Vater der Geschwister stand damals an der türkisch-syrischen Grenze und streckte diese Bilder mit Tränen in den Augen in die Kameras von internationalen Medien. Er suchte verzweifelt nach seiner zu dem Zeitpunkt 15 Jahre alten Tochter und ihrem 16-jährigen Bruder.
Die Teenager aus Winterthur verschwanden von einem Tag auf den nächsten spurlos. Der Vater befürchtete, dass sie sich dem Islamischen Staat (IS) in Syrien angeschlossen haben. Mehrere Tage versuchte er, seine Kinder aufzuspüren und in die Schweiz zurückzuholen. Doch es kam anders. Ein Jahr verbrachten die Geschwister in Syrien, bevor sie am 29. Dezember 2015 am Flughafen Zürich aus einer Maschine von Istanbul kommend ausstiegen und umgehend verhaftet wurden.
Drei Jahre sind seither vergangen, die Geschwister sind inzwischen volljährig. Weil sie zur Tatzeit unter 18 Jahre alt waren, muss das Jugendgericht über ihren Fall urteilen. Was hat die Teenies bewogen, nach Syrien zu reisen? Wo genau haben sie sich aufgehalten? Was haben sie dort gemacht? Wie gelang es ihnen, in die Schweiz zurückzureisen? Still sitzen Vedad und seine jüngere Schwester neben ihren Anwälten. Immer wieder schütteln sie ihre Köpfe und bedeuten so, dass sie keine Aussagen machen wollen. Die langen Haare von Esra tanzen über der Stuhllehne hin und her. Die Fragen von Gerichtspräsident Andreas Oehler bleiben unbeantwortet.
Aufschluss liefern die Recherchen der Jugendanwaltschaft, Polizeiprotokolle und die Aussagen von Zeugen. Demnach radikalisierten sich die Geschwister bereits im Jahr 2013. Sie begannen, gegenüber Freunden den IS zu verteidigen und bekundeten Sympathien mit dessen Idealen. Mit verschiedenen Exponenten in Winterthur, die für den radikalen Islam schwärmten, standen sie regelmässig in Kontakt. Darunter auch mit dem Thai-Boxtrainer Valdet Gashi, der später in Syrien ums Leben kam. Vedad hat in seinem Kampfboxcenter täglich bis zu zwei Stunden trainiert.
Esra begann, einen Schleier zu tragen. Das führte offenbar zu Hause zu Konflikten. Ihre ältere Schwester soll einmal ihr Kopftuch zerschnitten haben. Auch die Lehrer in der Schule waren offenbar nicht mit dem neuen Aufzug von Esra einverstanden und beschwerten sich bei ihr und ihren Eltern. Ihr Bruder kreuzte daraufhin in der Schule auf und stellte den Lehrer zur Rede. Unklar ist, ob sich die damals 15-Jährige vor ihrem Verschwinden mit einem mehr als doppelt so alten ehemaligen Vorstandsmitglied der Winterthurer An'Nur-Moschee geehelicht hatte. Diese Frage ist Bestand eines separaten Verfahrens gegen den Mann.
Laut Anklageschrift war es Vedad, der die Flugtickets für sich und seine Schwester nach Istanbul kaufte. Am 18. Dezember stiegen die Geschwister in das Flugzeug. Beide verwischten ihre Spuren, indem sie ihren Eltern angaben, woanders zu übernachten. Von Istanbul aus fuhren sie mit einem Bus bis vor die syrische Grenze, dort bezahlten sie einen Schlepper, um zuerst nach Rakka und später nach Manbij zu gelangen. Ihnen soll eine Wohnung zugewiesen worden sein. Die ganze Zeit über haben die Geschwister beieinander gewohnt.
«Aber was haben sie dort den ganzen Tag gemacht?», versucht es Gerichtspräsident Oehler hartnäckig weiter. Doch wieder erntet er von Vedad und Esra eisernes Schweigen. In einer früheren Einvernahme beschrieb Esra ihren Alltag als ziemlich normal, «so wie in der Schweiz»: Zwischen 10 und 11 Uhr sei sie aufgestanden, habe gebetet, danach kümmerte sie sich um Kinder. Sie brachte ihnen englische Vokabeln bei oder beschäftigte sie mit Spielen. Nach dem Nachmittagsgebet habe sie gekocht und sich um den Haushalt gekümmert. Angesprochen wurde sie unter dem Namen Djumara.
Ihr Bruder nannte sich in Syrien Idris al-Albani. Er besuchte eine Koranschule, verteilte Hilfsgüter und soll den IS logistisch und mit Transporten unterstützt haben, heisst es in der Anklageschrift. Regelmässig schrieb er offenbar Nachrichten an seine Familie und schwärmte von dem Leben in Syrien. Er forderte seine in der Schweiz wohnhafte Schwester auf, ebenfalls zu ihm und Esra zu kommen, da herrsche «zu hundert Prozent Sicherheit». In anderen Nachrichten klang er dann wiederum weniger optimistisch. Laut Chatprotokollen schrieb er im April, vier Monate nach seiner Ankunft in Syrien, seinem Vater die Nachricht: «Papi, hol uns!»
«Warum? Warum haben Sie Ihrer Familie einerseits von Syrien vorgeschwärmt, andererseits hatten Sie aber Angst?», will Gerichtspräsident Oehler wissen. «Ja dazu kann ich schon etwas sagen», antwortet Vedad überraschend. Natürlich sei die Situation in Syrien gefährlich gewesen. Dies, weil es Terror von überall, von allen Seiten gab. «Von Frankreich, USA, Deutschland oder Russland. Es gab viele Menschen, die flüchteten. Diese Menschen brauchten Hilfe.» Er habe sich um diese Menschen gekümmert, habe im Flüchtlingslager gearbeitet. «Bei dem, was ich gemacht habe, habe ich mich gut gefühlt. Ich habe Menschen geholfen.» Es sei ein Gemeinschaftsleben gewesen, ohne dass jeder nur für sich selbst geschaut habe. «Das gab mir ein gutes Gefühl, ein süsses Gefühl. Und das wollte ich mit meiner Familie teilen.» Gleichzeitig sei man aber dem Tod sehr nah gewesen.
Nach diesem Votum kehrt Vedad zu seiner Verteidigungsstrategie zurück und hüllt sich wieder in Schweigen. War es der Tod von drei den Geschwistern nahe stehenden IS-Kämpfern aus Winterthur, der bei ihnen Zweifel an ihrem Vorhaben weckte? Laut den Polizeiakten sagte Esra aus, sie habe Fotos von verstückelten Kinderleichen gesehen. Das habe ihr Angst gemacht. Zuletzt soll es die Mutter gewesen sein, die bei der Rückkehr der Jugendlichen eine wichtige Rolle spielte. Laut den Untersuchungen der Jugendanwaltschaft reiste sie im Herbst selbst zu ihren Kindern und lebte drei Monate lang mit ihnen in demselben Haus in der syrischen Stadt Manbij. Ein erster Ausreiseversuch im Oktober scheiterte. Im Dezember dann gelang der Grenzübertritt in die Türkei.
Weder der Gerichtspräsident noch die Jugendanwältin dürften am Montag vor Gericht richtig schlau aus Vedad und Esra geworden sein. Was bewog die damals noch so jungen Winterthurer dazu, sich für den Terror und für ein Leben im Krieg zu entscheiden? Es bleibt zu hoffen, dass Vedad und Esra diese Frage immerhin für sich selbst mit therapeutischer Hilfe aufarbeiten konnten.
Massgebliche juristische Konsequenzen haben die Geschwister allerdings kaum zu befürchten. Die Jugendanwaltschaft verlangt wegen Verstosses gegen die IS-Gesetzgebung und Unterstützung einer kriminellen Organisation eine bedingte Freiheitsstrafe von 11 beziehungsweise 12 Monaten sowie Schutzmassnahmen. Das Urteil wird erst im nächsten Jahr erwartet.
*Namen der Redaktion bekannt.