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Vor mehr als zehn Jahren begann der «Heiler von Bern» seine Opfer mit HIV anzustecken – die Chronologie der Ereignisse

Heute wieder vor Gericht

Vor mehr als zehn Jahren begann der «Heiler von Bern» seine Opfer mit HIV anzustecken – die Chronologie der Ereignisse

Der selbsternannte Heiler G.* ist heute vor Gericht zu 15 Jahren Haft verurteilt worden. Sein Fall beschäftigt die Justiz schon seit Jahren. Es ist einer der unglaublichsten Fälle der Schweizer Kriminalgeschichte.
07.04.2014, 13:4115.07.2014, 13:31
Daria Wild
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Gerichtszeichnung vom 7. April: Der Heiler von Bern.
Gerichtszeichnung vom 7. April: Der Heiler von Bern.Bild: KEYSTONE

Die erste Meldung im Inselspital

Es ist eine Geschichte, die die Ärzte zunächst nicht glauben wollen: Ein HIV-positiver Jugendlicher nennt im Inselspital Bern einen Musiklehrer als einzige mögliche Infektionsquelle für seine Krankheit. Das ist im Jahr 2002. Zu dieser Zeit hat der selbsternannte Heiler bereits drei Menschen mit HIV-kontaminierten Nadeln gestochen und so angesteckt. 

Doch von diesen Fällen weiss noch niemand. Bis Ende 2002 sind elf Personen dem Heiler zum Opfer gefallen.

Das Inselspital rät dem Jungen von einer Anzeige ab. Die Ärzte kommen zum Schluss, dass die Angst vor der Stigmatisierung und die mögliche Belastung für die Familie zu gross sind. Ausserdem kann der Verdacht nicht erhärtet werden. 

In den Jahren 2003 und 2004 kommt es zu vier weiteren Ansteckungen.

Erste Anzeige gegen den Heiler

Wir schreiben Juni 2004. Am Berner Inselspital erzählt ein Patient den Ärzten dieselbe Geschichte wie der HIV-positive Jugendliche damals im Jahre 2002. Der Mann behauptet, nur eine mögliche Infektionsquelle zu kennen: Eine Art Spritze, die ihm ein Heiler bei einer Akupunkturbehandlung in die Schulter verpasst habe.

Im Frühjahr 2005 stossen die Ärzte auf zwei weitere unerklärliche HIV-Infektionen. Beide Patienten gehören keiner Risikogruppe an, beide haben aber Kontakt zum selben Heiler. Das Inselspital wird hellhörig. Es sucht unter den 700 Patienten der HIV-Sprechstunde nach möglichen Betroffenen und informiert den Kantonsarzt über sechs Fälle

Doch die Ärzte werden nicht vom Amtsgeheimnis entbunden und alarmieren die Strafbehörden nicht. Später sagt das Inselspital, zu diesem Zeitpunkt sei der Schutz der Patienten wichtiger gewesen als das Aufdecken eines Verbrechens. 

Die Ärzte empfehlen den Opfern, sich selbst an die Justiz zu wenden. Die erste Anzeige wird eingereicht

Verhaftet und wieder freigelassen

Aufgrund der Anzeige nimmt die Justiz die Ermittlungen auf. G. wird verhaftet und muss für zwei Tage in Untersuchungshaft. Im Haus des Musiklehrers werden Waffen, Patronen und Akupunkturnadeln sichergestellt. 

Kontaminiertes Blut jedoch findet man nicht. Zweifelsfreie Beweise bleiben aus. G. wird nach seiner U-Haft wieder auf freien Fuss gesetzt.

Inselspital ermittelt 18 Fälle

Im Jahr 2007 dokumentieren die Ärzte insgesamt 18 Fälle, bei denen die angesteckten Opfer den «Heiler» als einzig mögliche Quelle angegeben haben. Das Inselspital übergibt den Berner Untersuchungsbehörden eine anonymisierte Liste.

G. wird erneut festgenommen und muss für 37 Tage in U-Haft. Doch wieder kommt er frei, wieder fehlen zweifelsfreie Beweise. Auch als G. 2010 seine Frau mehrfach bedroht und erneut während 33 Tagen in Untersuchungshaft sitzt, kommt er noch einmal davon. Er lebt unter Auflagen auf freiem Fuss und unterrichtet weiter.

Fall wird publik

Bis im Juni 2010 dauert es, bis die Öffentlichkeit vom «Heiler von Bern» erfährt. Bereits drei Mal ist G. bis dahin in Untersuchungshaft gewesen, der Fall liegt noch immer bei der Justiz, als dem «Sonntags-Blick» Informationen zugespielt werden. Das Blatt kritisiert die beteiligten Ärzte scharf und fordert, dass die Justiz handelt.

Nach einer langen Untersuchungszeit zur Anklage

Doch das Verfahren ist zäh. Viele Opfer haben Hemmungen, sich zu äussern. Zweifelsfreie Beweise fehlen. Eine phylogenetische Analyse zur Ermittlung der Herkunft der Viren ist aufwändig. Aber bereits im Jahr der Publikmachung wird es eng für den Heiler: In mindestens drei Fällen lässt sich eine Infektion ohne Mitwirkung von G. nicht erklären.

Erst im August 2012 schliessen die Berner Strafvollzugsbehörden die Untersuchungen ab. Es kommt zu einer Anklage. Von insgesamt 20 Opfern werden 4 in der Anklageschrift nicht genannt. Drei sind verwandt mit G., ein Opfer will aus Angst nicht aussagen. Es bleiben 16 Privatkläger.

Dreiwöchiger Indizienprozess

Im März 2013 muss der Heiler vor das Regionalgericht Bern-Mittelland. Die Anklage: Schwere Körperverletzung, Verbreiten menschlicher Krankheiten, Drohung, versuchte Nötigung. 

G. streitet alles ab und sieht sich als Opfer einer Verschwörung. Am zweiten Prozesstag erscheint er nicht vor Gericht. Als ihn die Polizei abholen will, verschanzt er sich in seiner Wohnung. Nach 24 Stunden kann ihn die Polizei überwältigen.

Drei Wochen dauert der Indizienprozess, an dessen Ende das Gericht die Schuld des Heilers als erwiesen erachtet. Ausschlaggebend ist ein Gutachten, das die Beschreibungen der Kläger stützt. So schliesst die Expertise aus, dass die Übertragung des HI-Virus auf natürlichem Weg erfolgte.

Der Heiler wird zu zwölf Jahren und neun Monaten verurteilt. Ausserdem muss er 100'000 Franken an die Opfer zahlen.

Heiler zieht den Fall weiter

Doch damit ist G. nicht von der Bildfläche verschwunden. Im August 2013 meldet sich der mittlerweile 55-Jährige aus der Haft: In einer SRF-Dokumentation beteuert er, nichts mit den Infektionen zu tun zu haben. «Ich bin unschuldig», so G. 

Der Film stösst auf Kritik. Die Opfer, beispielsweise die Ex-Frau des Heilers, seien nicht zu Wort gekommen, man habe den Musiklehrer mit Samthandschuhen angefasst.

G. legt Berufung ein und zieht das Urteil an das Obergericht des Kantons Bern weiter. Die Generalstaatsanwaltschaft schliesst sich an – sie hält die Strafe für zu milde.

15 Jahre Haft

Die Berufung hat sich für den Heiler nicht gelohnt: Das Obergericht des Kantons Bern hat G. heute zu 15 Jahren Haft verurteilt. Die Strafe ist damit höher als jene, die das Regionalgericht Bern-Mittelland im März vergangenen Jahres ausgesprochen hat. 

Das Interview mit dem Pflichtverteidiger des «Heilers» jetzt auf watson

*Name der Redaktion bekannt.

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