Ohne Garantie für eine menschenwürdige Unterbringung hätten die Schweizer Behörden im Fall der achtköpfigen Familie Tarakhel aus Afghanistan im Januar 2012 keine Rückweisung nach Italien verfügen dürfen.
Die Verhältnisse im italienischen Asylwesen sind aus Sicht der Grossen Kammer des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte so prekär, dass den Tarakhels eine unmenschliche Behandlung drohte.
Die Strassburger Richter stoppten mit ihrem gestrigen Urteil die Überstellung der Eltern und ihrer sechs minderjährigen Kinder. Damit ist aber nicht geklärt, ob sie in der Schweiz bleiben dürfen.
Das Bundesamt für Migration muss nun von den italienischen Behörden eine Garantie für eine altersgerechte Betreuung der Kinder und die Wahrung der Einheit der Familie einholen.
Das Bundesamt für Justiz betont, im Fall eines positiven Bescheids aus Rom sei die Überstellung der Familie gemäss Dublin-Abkommen und Menschenrechtskonvention zulässig.
Das Strassburger Urteil dürfte Folgen für ganz Europa haben. Überstellungen nach Italien könnten schwieriger werden, sagt der Basler Staatsrechtprofessor Markus Schefer: «Es braucht einiges, bis das Gericht Rückführungen verbietet. Die Schranken der Menschenrechtskonvention sind hoch.»
Offenbar seien die Verhältnisse im südlichen Nachbarland aber so schlecht, dass eine menschenwürdige Behandlung von Asylsuchenden nicht mehr garantiert sei. «Die Frage ist, wie systemisch das Problem ist. Gibt es Regionen, wo die Verhältnisse besser sind?»
Bisher konnten die 32 Teilnehmerstaaten des Dublin-Abkommens Asylbewerber bei wiederholten Gesuchen ohne Vorliegen einer Garantie ins Land des ersten Gesuchs zurückschicken; so, wie es die Schweiz im Fall der Familie Tarakhel tat.
Als Reaktion auf das Urteil will das Bundesamt für Migration neu auch bei «vergleichbaren Fällen» Garantien einholen, um die Auflagen des Gerichts zu erfüllen. Das Hilfswerk der Evangelischen Kirchen Schweiz, das die rechtliche Vertretung der Tarakhels finanzierte, bezeichnet die Praxisänderung als «wegweisend für Familien und verletzliche Personen im Rahmen von Dublin-Verfahren».
Bürgerliche Parlamentarier jedoch sehen im Urteil des Menschenrechtsgerichtshofs einen Affront. «Es ist ein Anreiz für Italien, das Dublin-Abkommen noch weniger einzuhalten als bisher», sagt der Zuger CVP-Nationalrat Gerhard Pfister, Mitglied der staatspolitischen Kommission (SPK).
Die Schweiz müsse Druck ausüben, damit das Land die Dublin-Auflagen künftig erfülle und die Bedingungen in den Unterkünften verbessere. «Italien kann nicht in Steuer- und Grenzgängerfragen stets auf die Einhaltung der Regeln pochen und gleichzeitig die Regeln im Asylbereich dermassen unterlaufen.»
Man müsse aufhören, dem Land Verständnis gegenüberzubringen. «Die Schweiz hat Möglichkeiten, um Druck auszuüben.»
Der Solothurner FDP-Nationalrat und Asylpolitiker Kurt Fluri hofft, dass auch andere Dublin-Staaten den Druck erhöhen. «Sonst kann ein einziges Dublin-Land das ganze System blockieren.»
Die SVP fordert in einer Mitteilung die Wiedereinführung von Grenzkontrollen an der Südgrenze, «sollte dieses Urteil die Rückführung von Asylbewerbern nach Italien generell erschweren oder gar verunmöglichen».
Linke Politiker äussern sich weniger konfrontativ. Die Basler SP-Nationalrätin Silvia Schenker etwa sieht die Lösung des Problems in der geplanten Beteiligung der Schweiz am Europäischen Unterstützungsbüro für Asylfragen.
Das Büro leistet in Ländern mit stark belastetem Asylwesen mit Expertenteams «praktische Hilfe». Aus der Schweiz würden Fachkräfte des Bundesamtes für Migration zum Einsatz kommen. Die SPK sagte letzte Woche deutlich Ja zu einer Teilnahme. Auch die Reaktionen in der Vernehmlassung waren – mit Ausnahme der SVP – positiv.