Verfassungsbruch! Skandal! Das Ende der Demokratie! An markigen Sprüchen seitens der SVP fehlte es am Wochenende nicht. Grund dafür ist der Entscheid der Nationalratskommission, den Zuwanderungsartikel möglichst sanft umzusetzen. Firmen sollen ihre offenen Stellen den regionalen Arbeitsvermittlungszentren (RAV) melden. Mehr nicht. Kein Wort von Höchstzahlen, Kontingenten, wie von der Verfassung verlangt. Mit deutlicher Mehrheit (16:9) folgte die Kommission vergangenem Freitag dem Konzept des Solothurner FDP-Nationalrats Kurt Fluri. Es gewichtet die bilateralen Verträge mit der Europäischen Union (EU) klar höher als die Verfassung. Der wirtschaftliche Schaden bei einem Verstoss des Freizügigkeitsabkommens wäre zu hoch, urteilten die anderen Parteien.
Die SVP tobt. «Noch nie hat sich das Parlament so sehr geweigert, einen Verfassungsartikel umzusetzen», sagt SVP-Parteipräsident Albert Rösti. Der Zürcher SVP-Nationalrat Thomas Matter warf gestern Kurt Fluri in einem offenen Brief gar den Bruch des öffentlich geleisteten Amtseid vor und forderte ihn zum Rücktritt als Nationalrat auf — ein Vorgang mit Seltenheitswert im Schweizer Politikbetrieb.
Doch die Aufregung ist verfrüht. Schon im Oktober dürfte im Ständerat eine Korrektur erfolgen: «Wir werden den Inländervorrang auch betreffs Umsetzung und Wirksamkeit nochmals anschauen», kündigt der Aargauer FDP-Ständerat Philipp Müller gegenüber der «Nordwestschweiz» an. Damit macht Müller klar, dass er das sogenannte «Genfer Modell» bevorzugt. Genf hat lange vor der Masseneinwanderungsinitiative in Staatsbetrieben das Prinzip verankert, dass offene Stellen wenn immer möglich mit einheimischen Arbeitslosen besetzt werden. Dazu gehört nicht bloss eine Meldepflicht, wie sie die nationalrätliche Kommission beschlossen hat, sondern auch die Pflicht, dass Unternehmen valable Kandidaten anhören — und abschlägige Entscheide begründen müssen. Einen «echten Inländervorrang» also.
SP-Ständerat Hans Stöckli unterstützt das Einschwenken auf einen bissigeren Inländervorrang, wie ihn Müller verklausuliert fordert: «Die Lösung des Nationalrats ist noch verbesserungsfähig», sagt er. Man werde ausloten, wie der Inländervorrang verschärft werden könne. «Vor allem hinsichtlich der zweiten Stufe, der Meldepflicht.» Da gehe das Genfer Modell einige Schritte weiter, so Stöckli. Der Bundesrat habe sich in seinem Gesetzesvorschlag primär an der Verfassung orientiert, der Nationalrat am Personenfreizügigkeitsabkommen. «Es wird Sache des Ständerats sein, diese Perspektiven anzugleichen.»
Diese Aussicht dürfte die SVP zumindest etwas besänftigen: «Nur schon, wenn ins Gesetz geschrieben würde, dass Firmen offene Stellen nicht nur melden, sondern zumutbare Kandidaten auch prüfen müssen, wäre ein wichtiger Schritt», sagt SVP-Chef Albert Rösti. Das Feilschen um die Zuwanderung geht in die nächste Runde.
Die SVP sieht sich als Hüterin des Volkswillens und ärgert sich masslos darüber, dass die anderen Parteien ihre Initiative nicht umsetzen wollen. Für SVP-Präsident Albert Rösti ist hingegen klar: «Das gab's noch nie, dass sich das Parlament dermassen weigert, eine Initiative umzusetzen.» Ein Blick in die Vergangenheit zeigt jedoch, dass andere Verfassungsaufträge durchaus nicht zuoberst auf der Prioritätenliste der SVP standen. Man erinnere sich an die Alpeninitiative, die Mutterschaftsversicherung oder die Zweitwohnungsinitiative.
Ausgerechnet beim bedeutendsten Thema der Legislatur zieht sich ein tiefer Graben durchs bürgerliche Lager. FDP, CVP, BDP und GLP spannen mit den Linken zusammen und lassen die SVP im Regen stehen. Übers Wochenende deckten sich beide Lager mit Vorwürfen ein. Heisst das nun, der bürgerliche Zusammenschluss ist gescheitert? «Der Frust sitzt tief», sagt Albert Rösti. Doch sie seien Profi genug, um bei anderen Fragen wieder gut mit den bürgerlichen Partnern zusammenarbeiten zu können.
Justizministerin Simonetta Sommaruga bestätigte am Wochenende klipp und klar, dass der Kommissionsbeschluss im Einklang mit dem Freizügigkeitsabkommen steht. Trotzdem laufen die Gespräche mit der EU weiter. Was gibt es noch zu diskutieren, wenn es keine Meinungsverschiedenheiten gibt? «Der Beschluss ist erst eine Zwischenetappe», sagt Guido Balmer vom Justiz- und Polizeidepartement (EJPD). Solange der Prozess nicht abgeschlossen sei, würde mit der EU weiter ausgelotet, was möglich ist und was nicht.
Am 21. September kommt es im Nationalrat zum nächsten Schlagabtausch zwischen der SVP und den anderen Parteien. Der Ständerat befasst sich in der Wintersession (Dezember) mit der Vorlage. Am 16. Dezember folgt schliesslich die Schlussabstimmung der beiden Räte. Dann muss eine mehrheitsfähige Vorlage stehen. Sonst wird die Frist vom 9. Februar 2017 nicht eingehalten.