Schweiz
Grosse Fragen

Schweizer Studie: Behinderte finden bei sexuellem Missbrauch kaum kompetente Hilfe

Eine nationale Telefonhotline könnte Betroffenen helfen.
Eine nationale Telefonhotline könnte Betroffenen helfen.bild: shutterstock

Schweizer Studie: Behinderte finden bei sexuellem Missbrauch kaum kompetente Hilfe

Eine aktuelle Schweizer Studie weist auf bürokratische Hindernisse hin. Die Situation sei unbefriedigend – und müsse sich nun ändern.
27.06.2015, 13:5627.06.2015, 14:08
Mehr «Schweiz»

Wird ein Mensch mit Behinderung sexuell missbraucht, findet er nach wie vor kaum kompetente Hilfe. Dies folgert eine Studie, fünf Jahre nachdem der Sozialtherapeut aufgeflogen war, der während Jahrzehnten in Heimen 114 Menschen mit Behinderungen missbraucht hatte.

Der Mann hat nach seiner Verhaftung 2010 den mehrfachen sexuellen Missbrauch von 114 Menschen mit Behinderungen in verschiedenen Heimen in der Schweiz und Deutschland zugegeben. 2014 wurde er zu 13 Jahren Haft verurteilt. Wegen der Verjährung beurteilte das Gericht nur 33 der Missbrauchsfälle. 

In vielen Kantonen harzt es

Gemäss der im «Tages-Anzeiger» vom Samstag vorgestellten Studie der Berner Fachhochschule für Wirtschaft, Gesundheit und Soziale Arbeit bieten hierzulande nur gerade drei Opferhilfe-Beratungsstellen fachkompetente Hilfe für Menschen mit Behinderungen an, die Opfer sexueller Gewalt werden.

Doch auch diese drei Beratungsstellen decken nicht alle Behinderungen ab. Überdies sind sie nur in den beiden Appenzell, den Kantonen St.Gallen, Zug und Zürich tätig.

In den übrigen Kantonen gibt es zwar einerseits Stellen, die sich auf das Thema sexuelle Gewalt spezialisiert haben, aber keine Fachkompetenz im Umgang mit Menschen mit Behinderung haben und umgekehrt, schreiben die Autoren der Studie. Diese hat der «Tages-Anzeiger» im Internet aufgeschaltet.

An der Umfrage haben sich 181 Organisationen in der ganzen Schweiz beteiligt. «Die Stellen- und Angebotslandschaft macht insgesamt einen heterogenen und fragmentierten Eindruck, weshalb es für hilfesuchende Personen und Institutionen nicht immer einfach sein mag, ein für ihre Bedürfnisse passendes Angebot zu finden», heisst es darin.

«Mangel an Übersicht»

Selbst für Fachleute ist es oft schwierig, Betroffene an die richtige Stelle zu verweisen. Bei vertiefenden Gesprächen mit Stellenleitenden «kam häufiger zum Ausdruck, dass ein Mangel an Übersicht besteht, was eine effiziente Weitervermittlung» erschwere oder gar verhindere.

Kommt hinzu, dass die meisten Organisationen sehr klein sind: Mehr als die Hälfte arbeiten mit weniger als drei Vollzeitstellen. Das wenige Personal muss zudem mehrere Themen gleichzeitig bearbeiten.

Ausländerinnen, Heimbewohnerinnen

Die Studie hat auch untersucht, an welche Gruppen von Opfern sexueller Gewalt sich die Angebote richten. Am ehesten finden Erwachsene, Jugendliche bis 25 Jahre, Frauen und Kinder eine Anlaufstelle, wo sie rasch und unbürokratische Hilfe erhalten können.

Dagegen finden neben Menschen mit Behinderungen auch Menschen, die von den Tätern abhängig sind, Menschen in Heimen, ältere Menschen oder Ausländerinnen und Ausländer sowie Männer schwer kompetente Hilfe, wenn sie Opfer eines sexuellen Missbrauchs wurden.

Nationale Anlaufstelle

Die Studie kommt zum Schluss, dass eine nationale Anlaufstelle Abhilfe schaffen könnte. Dabei sehen die Autoren zwei mögliche Aufgabengebiete: Eine nationale Telefonhotline könnte Betroffene und Angehörige direkt an die richtige Stelle in ihrer Region vermitteln.

Auch fehlt eine kantonsübergreifende Fachstelle, die die Kantone bei der Forschung, Aus- und Weiterbildung und der Prävention unterstützt und vernetzt und die politisches Lobbying betreibt.

Die Studie der Fachhochschule Bern war von der verbandsübergreifenden Arbeitsgruppe Charta Prävention «Wir schauen hin!» in Auftrag gegeben worden. Die Charta war von Heimen und Behindertenorganisationen unterzeichnet worden, nachdem die Behörden 2011 die Öffentlichkeit über den Fall des Berner pädokriminellen Sozialtherapeuten informiert hatten.

(sda)

DANKE FÜR DIE ♥
Würdest du gerne watson und unseren Journalismus unterstützen? Mehr erfahren
(Du wirst umgeleitet, um die Zahlung abzuschliessen.)
5 CHF
15 CHF
25 CHF
Anderer
twint icon
Oder unterstütze uns per Banküberweisung.
Das könnte dich auch noch interessieren:
1 Kommentar
Weil wir die Kommentar-Debatten weiterhin persönlich moderieren möchten, sehen wir uns gezwungen, die Kommentarfunktion 24 Stunden nach Publikation einer Story zu schliessen. Vielen Dank für dein Verständnis!
1
In Luzerner Kantonsspital kursiert «Mimimi-Formular» – Belegschaft «verletzt und empört»

«Wir sind Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Luzerner Kantonsspital (LUKS) und schreiben Ihnen diesen Brief, um Ihnen ein schwerwiegendes Problem in unserem Unternehmen aufzuzeigen» – so beginnt ein anonymes Schreiben, das die watson-Redaktion diese Woche erhalten hat.

Zur Story