Michel Rudin stockte der Atem, als er am Sonntag die tragischen Nachrichten aus Orlando vernahm: «Das ist ein Angriff auf mich. Ein Angriff auf uns als Minderheit. Ein Angriff auf unsere Werte und damit auf die ganze Gesellschaft», sagt der Co-Präsident von Pink Cross, dem nationalen Dachverband der schwulen Männer in der Schweiz.
Laufend aktualisierte die Polizei die Anzahl der Toten und Verletzten der Schiesserei im Nachtklub «Pulse», der hauptsächlich von Mitgliedern der sogenannten LGBT-Community – sprich: Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Trans- und Intersex-Menschen – frequentiert wurde. «Ich habe immer gehofft, dass es nicht so weit kommt, aber es überraschte mich nicht. Man musste es befürchten», sagt Rudin, der vor Jahren selbst auch schon in Orlando im Gay-Ausgang war, sich aber nicht mehr erinnern kann, ob er auch das «Pulse» betrat.
Grund für seine Beunruhigung sind Übergriffe auf Schwule und Lesben, die auch hierzulande stattfinden. Er meint damit Vorfälle wie etwa im vergangenen Oktober, als sechs Vermummte spätnachts eine Zürcher Schwulenbar stürmten, gemäss Augenzeugen Gäste und Personal mit Pfefferspray und Mobiliar angriffen und dabei homophobe Parolen schrien. Ernsthaft verletzt wurde niemand, der Sachschaden belief sich auf mehrere tausend Franken.
Auch wenn sie in keiner Art und Weise mit dem Massenmord von Orlando zu vergleichen sind, kann Pink Cross zahlreiche weitere Fälle aufzählen, bei denen die (körperliche) Integrität von Schwulen und Lesben angegriffen wurde. Auf der verbandseigenen Hotline gehen regelmässig besorgte Anrufe ein, und eine kürzlich durchgeführte Umfrage bei LGBT-Personen hat ergeben, dass 26 Prozent in den vergangenen fünf Jahren Opfer eines tätlichen Angriffs oder von Gewaltandrohungen gewesen sind.
Statistisch zweifelsfrei erhärtete Zahlen gibt es jedoch nicht. Wie häufig solche Vorfälle wirklich vorkommen, weiss niemand so genau. «Wir bewegen uns in einer absoluten Blackbox, was die erfassten Daten anbelangt», sagt Rudin. Auch der Bundesrat antwortete im vergangenen August in einer Antwort auf eine Interpellation der BDP: «Diskriminierende Handlungen gegen LGBT-Personen sind sicherlich verbreitet, es fehlen jedoch Zahlen, um dies zu belegen und entsprechende Massnahmen zu ergreifen.»
Das soll sich nun ändern. Die BDP fordert in ihrem Vorstoss, dass sogenannte «hate crimes» aufgrund der sexuellen Orientierung der Opfer künftig in der Polizeistatistik Eingang finden – so wie zum Beispiel Delikte, die rassistisch oder sexuell motiviert sind. «Es geht nicht nur darum, zu wissen, wie viele es sind. Eine genauere Statistik dient auch präventiven Massnahmen, um solche Verbrechen zu verhindern», sagt BDP-Fraktionschefin Rosmarie Quadranti. Ziel sei, das «Abdriften von Menschen» in Gewalt gegen Menschen mit anderer sexuellen Orientierung frühzeitig zu erkennen.
Beim Bund stösst sie damit auf offene Ohren: «Der Bundesrat ist bereit, im Rahmen der Evaluation der polizeilichen Kriminalstatistik (...) zu prüfen, inwiefern die Erfassung von ‹hate crimes› gegenüber Homo- und Transsexuellen institutionalisiert und für verbindlich erklärt werden könnte», schreibt er in der erwähnten Antwort.
Diese Evaluation ist derzeit am Laufen. Wie das zuständige Bundesamt für Statistik (BFS) auf Anfrage bestätigt, fand im Juni eine Sitzung mit Vertretern der kantonalen Polizeibehörden statt. «Der Entwurf zum Bericht dürfte bis Ende August fertiggestellt sein und dann dem strategischen Ausschuss präsentiert werden», sagt Projektleiter Philippe Hayoz. Bis Ende Jahr will man einen Massnahmekatalog ausarbeiten, damit die Behörden diesen ab 2017 umsetzen könnten.
In welche Richtung die Massnahmen gehen – also, ob homophob motivierte Verbrechen ab dann separat in der Polizeistatistik ausgewiesen werden –, ist noch offen. Der Bundesrat schreibt nämlich gleichzeitig, dass dafür «umfangreiche Investitionen» nötig wären und es diese mit dem «Nutzen der Statistik abzuwägen» gelte. Für BDP-Nationalrätin Rosmarie Quadranti kein valables Argument: «Der Aufwand darf ziemlich hoch sein, wenn es um Menschenleben geht.» (aargauerzeitung.ch)