Just einen Tag nach den bedeutungsvollen Wahlen in der Türkei wurde am Montag ein Erdogan-Anhänger zum ersten Mal vor ein Schweizer Gericht gestellt. Der 49-jährige Verleger der türkischen Zeitung «Post» schrieb im Sommer 2016 einen mutmasslich verleumderischen Artikel über Gülen-Schulen und -Vereine in der Schweiz. Der Fall ist relativ unspektakulär. Doch das Urteil könnte wegweisend sein.
Denn es ist allseits bekannt: Geht es Recep Tayyip Erdogan darum, seine Macht zu sichern, sind er und seine Anhänger bereit, weit zu gehen, sehr weit sogar. Dass der lange Arm des türkischen Präsidenten auch bis in die Schweiz reicht, zeigte sich in der Vergangenheit immer wieder. Insbesondere auch in den letzten Wochen vor den türkischen Parlaments- und Präsidentenwahlen.
Zugespitzt hatte sich die Situation für Erdogan-Gegner bereits Ende Juli 2016 nach dem Putschversuch in der Türkei. Die AKP-Regierung machte die Gülen-Bewegung für den Aufstand verantwortlich, rief den Ausnahmezustand aus und warf tausende Soldaten, Polizisten, Staatsanwälte, Richter, Lehrer, Professoren ins Gefängnis. Wer sich dem Präsidenten widersetzte, sein Wort in Frage stellte, wurde in die Ecke der Gülenisten gestellt, war damit ein Terrorist und musste mit Konsequenzen rechnen. Auch in der Schweiz.
«Erdogan verursacht Angst in der Schweiz», «Ankaras langer Arm», «Erdogan spioniert die Schweiz aus» – Die Schlagzeilen hierzulande machten damals deutlich, wie die türkische Regierung auch vor den Landesgrenzen keinen Halt machte und Oppositionelle verfolgen liess.
So sollen Mitarbeiter der türkischen Botschaft eigene Staatsleute bespitzelt und die Dossiers nach Ankara geschickt haben. Betreiber von Gülen-Schulen sollen bedrängt und bedroht worden sein, gar sollen türkische Diplomaten geplant haben, einen Gülen-Anhänger zu betäuben und zu entführen. Daneben organisierten AKP-Mitglieder in Hinterzimmern Wahlveranstaltungen, warfen Flyer in Schweizer Briefkästen und liessen einen Erdogan-Propaganda-Film auf Kinoleinwand laufen.
Der Aufwand hat sich für Erdogan gelohnt. Ein Grossteil der Auslandtürken gaben dem Machthaber bei den Präsidentenwahlen am vergangenen Sonntag ihre Stimmen. In Deutschland und Österreich erfreute sich Erdogan an einer noch grösseren Zustimmung als in seiner Heimat. Rund 70 Prozent stimmten für ihn. In der Schweiz sprachen sich 37 Prozent für Erdogan aus. Weniger als in den Nachbarländern zwar, jedoch war die Zustimmung für die Oppositionskandidaten Muharrem Ince mit 32 Prozent und Selahattin Demirtas mit 27 Prozent noch tiefer.
Nun sind die Wahlen vorbei und Erdogan hat alle seine politischen Ziele erreicht. Sein Präsidialsystem ist in Kraft getreten und er hat die Kontrolle über alle Elemente in der türkischen Gesellschaft errungen. Maurus Reinkowski, Türkei-Experte an der Universität Basel sagt: «Im Prinzip ist Erdogan nun nicht mehr auf den Ausnahmezustand angewiesen. Ich kann mir vorstellen, dass er ihn als Geste der Beruhigung nun aufhebt, so wie er es vor den Wahlen ja auch versprochen hatte».
Das würde zwar heissen, dass er zumindest in gewissen Entscheiden auf die Befugnis von Parlament und Gericht angewiesen wäre. Doch weil das Parlament und Gericht faktisch unter der Kontrolle seiner AKP-Regierung steht, muss Erdogan auch in Zukunft kein Risiko eingehen, selbst wenn er den Aufnahmezustand aufhebt.
Verschafft die Aufhebung des Ausnahmezustands seinen Gegnern im In- und Ausland zumindest einen Moment des Aufatmens? Reinkowski bezweifelt dies. «Eine Entspannung der Lage und ein Aufatmen für oppositionelle Kräfte ist nicht angesagt», sagt er. Zwar sei Erdogans Macht nun so gross, dass es rational gesehen Sinn machen würde, der Opposition die Hand zu reichen. «Doch Erdogan hat eine komplexe Persönlichkeit und hinter dem harten Vorgehen gegen Kurden, Anhänger der Gülen-Bewegung oder CHP-Mitglieder steckt oft auch ein persönlicher Groll.»
Weil die Gülen-Bewegung in der Türkei zerschlagen worden ist, organisiere sie sich heute im Exil, sagt Reinkowski. Das sei Erdogan nach wie vor ein Dorn im Auge. «Er sieht sie als Bedrohung und ich denke, er und seine Anhänger werden darum weiterhin versuchen, Oppositionelle im Ausland, auch in der Schweiz, unter Druck zu setzen.»
Für die Schweizer Justiz heisst dies, dass das Urteil vom Fall des Verlegers der Zeitung «Post» wohl kaum das letzte sein wird, das sie fällen muss. Wobei es am Montag zuletzt gar nicht zu einem Urteil kam. Die Staatsanwaltschaft zog zu Beginn der Verhandlung am Bezirksgericht Bülach die Anklageschrift zurück, weil sie diese neu ergänzen will. Der Fall muss nun nochmals neu untersucht werden.