Man könnte denken, Europa wird gerade von einer Flüchtlingskrise durchgeschüttelt. In Deutschland drohte wegen dem Asylstreit die Regierung zu zerbrechen, in Italien weigert sich die neue Führung, weitere Flüchtlinge einreisen zu lassen, weil man am Limit sei und auch der österreichische Kanzler Sebastian Kurz hat das Thema «Flüchtlinge» zuoberst auf seine Agenda gesetzt.
Doch wie akut ist diese Krise wirklich? Wir haben die Zahlen angeschaut, mit Experten gesprochen und dabei folgende fünf Punkte festgestellt:
Italien hat genug. Es fühlt sich unter dem grossen Andrang von Migranten überlastet und weigert sich, neue Flüchtlinge ins Land zu lassen. Dass die Flüchtlingsschiffe «Aquarius» und «Lifeline» tagelang nicht in den italienischen Hafen einlaufen durften, war eine direkte Folge dieser italienischen Trotzhaltung. Doch wie sieht es denn eigentlich aus auf der Mittelmeer-Route?
Ausgelöst durch die Migrationsbewegungen von Syrien nach Europa, erreichte die Flüchtlingskrise im Oktober 2015 ihren Höhepunkt. Innerhalb eines Monats verzeichnete das UNO-Flüchtlingshilfswerk UNHCR 221'454 Personen, die über das Mittelmeer nach Europa gelangten. Im gesamten Jahr waren es über eine Million, die mit Booten die gefährliche Strecke von der Türkei aus auf eine griechische Insel oder von der nordafrikanischen Küste auf das italienische Festland bewältigten. Fast 3800 Personen ertranken.
Heute kommen bedeutend weniger Flüchtlinge über die Mittelmeer-Route nach Europa. Im Juni 2018 waren es 12'141 und im gesamten bisherigen Jahr 45'023 Personen. Verglichen mit demselben Zeitraum in der Vorjahresperiode sind das halb so viele und verglichen mit den Spitzenmonaten von 2015 sind es gar fünf Mal weniger Personen, die einreisten.
Am häufigsten gelangten die Flüchtlinge dieses Jahr über die Strasse von Gibraltar in Spanien nach Europa. Das Land scheint Griechenland und Italien als grösster Ankunftshafen für Migranten abzulösen. Im Mittelmeer ertrunken sind bis Ende Juni 1137 Personen.
Der österreichische Bundeskanzler Sebastian Kurz, der seit Beginn dieses Monats das Amt des EU-Ratspräsidenten inne hat, will mit allen Mitteln gegen die illegale Migration vorgehen. Dafür notwendig sei, dass die Albanienroute geschlossen werde. Es gebe nun wieder mehr Ankünfte in Griechenland und neue Entwicklungen in Albanien, erläuterte Kurz gegenüber den Medien.
Bei näherer Betrachtung stellen sich diese «neuen Entwicklungen» in Albanien jedoch eher als ein laues Lüftchen, denn einen heissen Sturm heraus. Unterschiedliche Quellen beschreiben zwar, dass die Zahl der ankommenden Flüchtlinge in Albanien zugenommen habe. In absoluten Zahlen hält sich der Andrang mit bis zu 2400 Flüchtlingen im Jahr 2018 jedoch in Grenzen.
Dem in diesen Tagen eskalierten Asylstreit zwischen der deutschen Kanzlerin Angela Merkel und ihrem Innenminister Horst Seehofer liegt unter anderem der Umgang mit sogenannten Dublin-Fällen zugrunde. Das EU-Recht besagt, dass jedes Asylgesuch eines Flüchtlings zu prüfen sei. Seehofer will, dass Flüchtlinge, die bereits in einem anderen EU-Land registriert wurden, noch an der Grenze zurückgewiesen werden müssen.
Wie gut funktionieren Dublin-Rückschiebungen? Immer besser, zeigt der Blick auf die Statistiken. Im Jahr 2017 bat die Schweiz in 8370 Fällen um eine Übernahme nach Dublin. 2297 wurden tatsächlich übernommen, sprich die Asylsuchende Person wurde abgeschoben, weil ein anderes Land für sie zuständig war. Das waren 27,4 Prozent aller Fälle. 2016 konnte die Schweiz 24,6 Prozent aller Dublin-Fälle ausweisen und 2015 waren es nur 14,1 Prozent der Fälle.
Auch Deutschland schiebt immer mehr Flüchtlinge nach Dublin-Verordnung ab. 2015 waren es 8,1 Prozent aller Fälle, 2016 7,1 Prozent und vergangenes Jahr waren es dann 11 Prozent.
Oben genannte Zahlen zeigen: Es gelangen weniger Menschen nach Europa. Das heisst aber nicht, dass es auch global weniger Flüchtlinge gibt. Jedes Jahr steigt die Zahl der Personen, die sich auf der Flucht befinden. Laut UNHCR gab es Ende 2017 weltweit 68,5 Millionen Flüchtlinge.
Doch wo sind sie und wohin gehen sie? Während im Jahr 2015 tausende Menschen über das Mittelmeer und über die Balkanroute nach Europa geflohen sind, haben sich seither die Hotspots der Migration immer weiter weg verschoben. Durch den Deal der EU mit der Türkei und durch die Verstärkung der Aussengrenzen im Süden Europas sind es heute vor allem Drittweltländer, die aufgrund der Fluchtbewegungen unter Druck stehen.
Die Situation in diesen Flüchtlingslagern ist in oftmals äusserst prekär. In Libyen sollen es regelrechte Internierungslager sein, in welche die Menschen gesteckt werden. Die Organisation «Ärzte ohne Grenzen» berichtete kürzlich von Flüchtlingen, die monatelang gegen ihren Willen in solchen Lagern festgehalten wurden. Aufgrund mangelnder Hygiene und engem Platzverhältnis seien Krankheiten ausgebrochen. Im vergangenen Winter sorgte ein Video eines CNN-Reporterteams für Furore. Es zeigte, wie ausserhalb der libyschen Hauptstadt Tripolis Menschen versteigert wurden.
Ende Juni reiste der italienische Innenminister Matteo Salvini für ein Treffen mit seinem libyschen Amtskollegen nach Tripolis. Dort nannte er Libyen ein «befreundetes Land», das er in wirtschaftlichen, technischen und kulturellen Bereichen unterstützen wolle. Für ihn sei Libyen kein Problem, sondern eine Chance für Entwicklung, so Salvini. Am Montag Abend verlautbarte die italienische Regierung zudem, dass sie zwölf weitere Schiffe zur Unterstützung der libyschen Küstenwache schickt.
Am EU-Gipfel von vergangener Woche haben sich die Mitgliederstaaten nach einer stundenlangen Debatte zu einer gemeinsamen Erklärung durchgerungen. Diese sieht unter anderem vor, dass der Grenzschutz erhöht und in afrikanischen Ländern Aufnahmezentren für Flüchtlinge geschaffen werden sollen. Dem deutschen Innenminister Horst Seehofer gehen diese Beschlüsse zu wenig weit. In dem von ihm konzipierten «Masterplan Migration» fordert er mehr Ausschaffungsgefängnisse und will illegal eingereiste Flüchtlinge sofort wieder an die Grenze stellen und abschieben. In Österreich will die Regierung eine «Achse der Willigen» gegen die illegale Migration schmieden. Was bedeuten diese Forderungen und Beschlüsse nun konkret für die Gesetzeslage in Europa?
«Nicht viel», sagt Sarah Progin-Theuerkauf, Professorin für Migrationsrecht an der Universität Freiburg. Der Streit zwischen Angela Merkel und Horst Seehofer, die «Achse der Willigen» in Wien, die gesamte Debatte um die sogenannte «Asylkrise»; all das sei vielmehr ein Polit-Theater, bei dem es um Machtspiele innerhalb von Europa gehe. Konkrete Änderungen für das geltende Recht bringe dieses Theater jedoch nicht mit sich.
Selbst die einzelnen Punkte, die am EU-Gipfel verabschiedet wurden oder die seit heute bekannte Übereinkunft zwischen Merkel und Seehofer, hätten keinerlei konkrete Auswirkungen auf das Dublin-System. Progin-Theuerkauf sagt: «Das sind nur Absichtserklärungen. Wer diese genau nachliest, sieht, dass da eigentlich nichts Verbindliches drin steht.»
Inwiefern das Dublin-System reformiert werden müsse, entscheide zudem weder Sebastian Kurz, noch Horst Seehofer oder Angela Merkel, so Progin-Theuerkauf. Es sei die Europäische Kommission, die hier das Initiativrecht habe. «Die Debatte um eine Reform des Dublin-Systems läuft bereits seit Jahren. 2016 hat die Kommission einen Vorschlag für ‹Dublin IV› gemacht. Dieser stiess aber auf viel Kritik.»
Nicht erst seit der Asylkrise kommen die Verhandlungen um das europäische Asylsystem schleppend voran. «Bei vielen wichtigen Punkten sind die Vorstellungen in den Mitgliedstaaten zu verschieden», sagt Progin-Theuerkauf und meint damit Themen wie einen europaweiten Verteilungsschlüssel von Asylsuchenden oder Flüchtlingen, das Errichten von grossen Sammelzentren oder die Frage, wem genau Schutz zu gewähren ist und durch wen. «Eine Einigung über eine Reform von Dublin wird erst dann erfolgen, wenn die Mitgliedstaaten zu mehr Solidarität untereinander bereit sind. Dies kann noch lange dauern. Solange gilt die alte Verordnung weiter.»