Die Katastrophe ist verschoben. Um halb fünf Uhr am Freitagmorgen verbreitet der EU-Ratspräsident die Nachricht auf seinem Twitter-Account: Der Asylstreit ist zumindest vorläufig entschärft. Der grosse Bruch unter Europas Partnern ist ausgeblieben. Die Staatschefs haben sich nach stundenlangen Diskussionen auf stärkeren Grenzschutz, einen freiwilligen Verteilschlüssel für Asylbewerber und die Prüfung von Sammellagern in der EU und Nordafrika verständigt. Es ist eine Verschnaufpause, aber keine Lösung.
EU28 leaders have agreed on #euco conclusions incl. migration.
— Donald Tusk (@eucopresident) 29. Juni 2018
Inhaltlich liegen Lichtjahre zwischen den Positionen der Regierungen. Die Mittelmeerstaaten Griechenland und Italien wollen mehr Solidarität bei der Verteilung der Asylbewerber. Die Osteuropäer wehren sich mit allen Mitteln dagegen.
Und Deutschland steckt irgendwo in der Mitte, eingeklemmt zwischen historischer Verantwortung in Flüchtlingsfragen und wachsendem innenpolitischen Druck. Nachdem Berlin 2015 für Hunderttausende Asylsuchende seine Grenzen öffnete, wurde Merkel zum Feindbild der Rechten. In der Folge hat sie die Hoheit über den Asyl-Diskurs verloren.
Merkels eigener Innenminister, CSU-Chef Horst Seehofer, hat ihr diesen Monat das Messer an den Hals gesetzt: Schafft sie es nicht, die anderen EU-Staaten von der Übernahme von mehr Asylbewerbern zu überzeugen, will Seehofer die Grenzen schliessen und alle Migranten zurückweisen, deren Fingerabdruck schon in einem anderen Staat registriert worden ist.
So wie es das Dublin-Abkommen verlangt. Mit seinem Ultimatum will Seehofer Härte in der Asylpolitik markieren und ein Absacken der CSU bei den Wahlen in Bayern im Oktober verhindern.
Ob er sich mit den von Merkel erzielten Verhandlungsresultaten am EU-Gipfel zufriedengibt, wird sich voraussichtlich noch dieses Wochenende zeigen. Entscheidet er sich gegen die Kanzlerin, könnte die deutsche Koalitionsregierung daran zerbrechen. Das vorzeitige Ende von Merkels politischer Karriere wäre wahrscheinlich.
Wie auch immer sich der europäische Asyl-Streit weiterentwickelt: Das Ergebnis hat direkte Konsequenzen für die Schweiz. Das Staatssekretariat für Migration (SEM) in Bern stellt sich schon jetzt auf den Fall ein, dass Innenminister Seehofer neue Grenzkontrollen einführt.
«Wenn die Situation an der schweizerisch-deutschen Grenze eine schwere Störung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung darstellen würde, könnte die Schweiz die Binnengrenzkontrollen verstärken», sagt Mario Gattiker, Chef des Staatssekretariats für Migration.
Seine Äusserung geht in eine ähnliche Richtung wie die Ankündigung von Österreichs Bundeskanzler Sebastian Kurz, der vor einer Woche sagte: «Wir würden alles tun, was erforderlich ist, um unsere Grenzen zu schützen. Das würde die Grenzsicherung am Brenner bedeuten, aber auch an vielen anderen Orten.»
Bei einer Wiedereinführung von Kontrollen würde das Schweizer Grenzwachtkorps die Asylsuchenden laut der Schweizerischen Flüchtlingshilfe bereits in den Zügen abfangen und zurück nach Italien bringen.
Sprecher Peter Meier fordert, jeder Migrant, der in der Schweiz ein Asylgesuch stellen wolle, müsse dies auch bei verstärkten Kontrollen weiterhin tun können. «Sonst wird es rechtsstaatlich problematisch.»
Der europäische Asylstreit könnte auch zum Thema bei den Schweizer Parlamentswahlen 2019 werden. Die Gesuchszahlen sind zwar stark gesunken und die Reform des Asylwesens mit den beschleunigten Verfahren kommt gut voran – diese Woche hat Migrationsministerin Simonetta Sommaruga den ersten Spatenstich für das Bundesasylzentrum in Zürich gesetzt.
Doch bei den Gegnern der SVP erinnert man sich nur zu gut an das Jahr 2015, als auf einmal Hunderttausende Migranten aus Nordafrika und dem Nahen Osten nach Europa strömten. «Die Flüchtlingsbewegung war Gratis-Werbung für die SVP und hat die Wahlen vom Oktober 2015 stark beeinflusst», sagt FDP-Ständerat Philipp Müller, der damals Parteipräsident war.
Müller ist überzeugt: Bei einem Kollaps von Schengen-Dublin könnte die Schweiz zum Anziehungspunkt für Asylbewerber werden, die sich eine zweite Chance erhoffen, weil sie anderswo abgelehnt worden sind. «Das müssen wir verhindern.»
Bereits heute hat das Dublin-Abkommen für die Schweiz viel an seinem Reiz eingebüsst. Die Eidgenossenschaft muss im Dublin-Verfahren relativ deutlich mehr Flüchtlinge übernehmen als früher.
Das zeigt eine Analyse der Asyl-Statistik des Staatssekretariates für Migration. In den Anfangsjahren konnten die Migrationsbehörden in Bern für jeden Asylsuchenden, den sie zurücknehmen mussten, zehn Dublin-Fälle ins Ausland schicken. 1904 Überstellungen ins Ausland kamen 2009 auf 195 Übernahmen im Inland.
Über die Jahre ist dieser Wert kontinuierlich gesunken und hat in den ersten Monaten 2018 einen Tiefstand erreicht: Pro Migranten, den die Schweiz übernommen hat, konnte sie nur noch 1.5 Fälle in einen anderen Staat schicken. Diesen Mai kamen 149 Überstellungen auf 112 Übernahmen.
Der Grund für diese Entwicklung liegt in Deutschland und Frankreich: Seit der Flüchtlingskrise 2015 wenden die beiden Länder das Dublin-Abkommen konsequenter an und schicken mehr Asylbewerber zurück, wie Staatssekretär Gattiker erklärt.
Die Schweiz profitiere von Dublin, auch wenn die Zahlen zurückgegangen seien. «Da wir ein Binnenland sind, werden weiterhin viele Asylsuchende zu uns kommen, die bereits in Italien registriert worden sind.»
Wie geht es weiter? Gattiker und Migrationsministerin Simonetta Sommaruga hoffen darauf, Europa werde sich auf einen Verteilmechanismus und gemeinsame Standards einigen, mit denen alle Staaten leben können. Wenigstens in Deutschland gilt das helvetische Asylwesen schon seit langem als Vorbild.
Bei ihrem Staatsbesuch 2015 in Bern sagte Kanzlerin Merkel: «Die Europäische Union kann von der Schweiz lernen.» Sukkurs erhält Sommaruga auch von rechter Seite. Norman Gobbi, Staatsrat der Lega dei Ticinesi, sagt: «Ich bin für einen Verteilschlüssel innerhalb von Europa. Hätten wir in der Schweiz kein solches System, müsste der Kanton Tessin wahrscheinlich die Grosszahl der Asylbewerber übernehmen.» (aargauerzeitung.ch)
Da predigen sie jahrelang, wie die Schweiz vom Dublinabkommen profitiere. Und jetzt erfährt man, dass das nur daran lag, weil das Dublinabkommen bis anhin nicht umgesetzt wurde.
Wir profitierten von einem Abkommen, weil man sich nicht daran hielt. Wozu haben wir dann dieses Abkommen überhaupt?
Frühzeitiges Ende der Karriere von Merkel? Wer war denn je länger in dem Amt?
Und es ist nicht so dass es an Frankreich oder Deutschland liegen würde bzgl dem Dublin-abkommen sondern daran dass die südstaaten kaum mehr wen registrieren und hoffen dass die Migranten so schnell wie möglich weiterziehen.