Dutzende Ordner voller Gerichtsakten – das ist alles, was von der einstigen Liebesgeschichte übrig geblieben ist. Die Griechin Marina* und der Genfer Yves** waren zwölf Jahre lang ein Paar. Während ihrer Ehe bauten sie sich steile Karrieren im Finanzsektor auf, kauften ein Eigenheim im schicken Genfer Vorort Chêne-Bougeries – und wurden Eltern.
Heute ist Yves von seinem alten Leben nur noch die Karriere als Bankier geblieben. Seine Noch-Ehefrau ist mit ihren zwei Kindern ohne sein Einverständnis nach Griechenland ausgewandert. Der Fall beschäftigte bereits alle Schweizer Gerichte. Nun liegt er beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte.
Wir treffen Yves zum Gespräch in einem Restaurant der Calvin-Stadt. Es ist Mittagszeit, im Lokal herrscht reger Betrieb. Er sitzt gerade, in Anzug und Krawatte, auf seinem Stuhl, ist zuvorkommend. «Ça va? Vous avez fait bon trajet?», erkundigt er sich lächelnd.
Frustriert wirkt er nicht, die Niederlage vor Bundesgericht sieht man ihm nicht an. Doch kaum liegt das Aufnahmegerät auf dem Tisch, sprudelt es nur so aus ihm heraus: «Dass ich heute öffentlich das Wort ergreife, kann vielleicht in Zukunft anderen Vätern helfen, die sich in derselben Situation wie ich befinden.» Er hofft auch, seinen Kindern damit eines Tages beweisen zu können, alles daran gesetzt zu haben, um sie zurückzuholen.
Wie jede Eskalation hat auch diese ihre Vorgeschichte. 2011 trennen sich Yves und Marina. Yves zieht aus, die Kinder (damals fünf beziehungsweise drei Jahre alt) bleiben bei Marina in Obhut, das heisst sie wohnen mit ihr im selben Haushalt. Die Eltern teilen sich die elterliche Sorge, Yves hat also das Recht, in Erziehung, Ausbildung und Ähnlichem mitzuentscheiden. Ausserdem erhält er ein regelmässiges Besuchsrecht.
Knapp zwei Jahre später erfährt er, dass Marina mit den Kindern nach Singapur auswandern will. Es sei nicht seine Ehefrau gewesen, die ihn informierte, wie Yves betont. Er stellt sich quer – «Ich will doch meine Kinder aufwachsen sehen und ihnen beistehen» – und beginnt so eine jahrelange Gerichtsschlacht.
Im Juni 2013 zieht Marina während des Schul- beziehungsweise Kindergartenjahres mit den Kindern in ihr Heimatland Griechenland und kommt erst auf Drängen der Behörden hin und wieder zurück: Yves konnte das Gericht überzeugen, Marina einen Umzug ins Ausland zu untersagen, solange die Justiz noch keinen definitiven Entscheid über die elterliche Obhut geschlossen hat. Doch wirklich beruhigt ist er dadurch nicht. «Sie hatte mich ja wieder nicht über ihre Pläne informiert! Stellen Sie sich vor, welche Sorgen ich mir gemacht habe.»
Als er im Frühsommer 2014 zu hören bekommt, Marina plane mit den Kindern erneut am darauffolgenden Freitag nach Singapur zu ziehen, reagiert Yves panisch: Am Donnerstag holt er die Kinder aus der Schule zu sich nach Hause, ohne Marina zu informieren. Die Situation eskaliert endgültig: Marina beschuldigt Yves des Kidnappings und reist drei Tage später mit den Kindern im Schlepptau in ihr Heimatland – und bleibt endgültig dort, in der Stadt Thessaloniki, wo auch ihre Familie lebt. Yves: «Da ist meine Welt zusammengebrochen. Ab dann habe ich meine Kinder zwei Jahre lang nicht gesehen.»
Dass sich Marina ins Ausland abgesetzt hat, haben die Richter im Februar 2015 erstinstanzlich als unrechtsmässig beurteilt. Sie müsse die Kinder sofort wieder in die Schweiz bringen, heisst es im Urteil, das watson vorliegt. Doch nichts passiert. 18 Monate später hält das Genfer Zivilgericht dagegen: Die Kinder würden den Vater zwar vermissen, fühlten sich an ihrem neuen Wohnort aber wohl, begründen die Richter den Entscheid. Yves erhebt Einsprache und der Fall kommt vor Bundesgericht. Doch auch dort bekommt die Mutter Recht. Da die Kinder nun bereits seit Jahren in Griechenland leben, entspreche es dem Kindeswohl, dass sie auch dort bleiben.
Mutter und Kinder bleiben also in Griechenland. Besonders bitter für Yves: «Ich wohne nur 200 Meter von unserem ehemaligen Haus entfernt, hätte die Kinder also mehrmals pro Woche sehen können. Jetzt darf ich sie nur ein paar Mal pro Jahr in einem fremden Land besuchen.»
Doch in der jetzigen Lage hat Yves keine Wahl. Er geht davon aus, dass er seine Kinder nie mehr in die Schweiz zurückholen kann. Um anderen Vätern dasselbe Schicksal zu ersparen, zog er das Urteil nun weiter an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte – und hofft auf einen Präzedenzfall. Der Entscheid steht aus.
Die Geschichte von Yves und Marina ist kein ein Einzelfall. Mit der steigenden Zahl von binationalen Ehen und Partnerschaften nehmen internationale Konflikte rund um das Sorge- und Besuchsrecht der Kinder zu. Die Zentralbehörde zur Behandlung internationaler Kindesentführungen im Bundesamt für Justiz behandelt jährlich rund 230 Fälle, wovon etwa die Hälfte bereits laufende Verfahren aus dem Vorjahr sind.
Rund drei Viertel der neuen Fälle betreffen die Rückführung von Kindern, rund ein Viertel die Ausübung des Besuchsrechts. In drei Viertel der Fälle ist es die Mutter, die das Kind ins Ausland entführt, bei der Verweigerung des Besuchsrechts liegt der Anteil der Mütter bei 90 Prozent.
Nach dem Misserfolg vor Bundesgericht hat sich Yves nun auch an die griechischen Behörden gewandt, «weil mir ja keine Wahl blieb», wie er sagt. Dort wurde ihm ein Besuchsrecht zugesprochen. «Nun kann ich meine Kinder sechs Mal pro Jahr ein paar Tage sehen – jedoch nur innerhalb von Griechenland.» Dabei seien die Zwei seit mehr als drei Jahren nicht mehr in ihrem Heimatland gewesen, so Yves. «Wenigstens skypen wir ein- bis zweimal pro Woche.»
Besonders tragisch war für Yves ihr Weihnachten 2016: «Wir haben in meinem Hotelzimmer in Athen gefeiert. Stellen Sie sich vor, wie bitter das ist.» Er ist vor einigen Monaten nochmals Vater geworden – von einer kleinen Tochter. Angesprochen auf die geographische Entfernung, die seine drei Kinder trennt, beginnt die Fassade des gefassten Bänkers zu bröckeln: «Pardon, j’ai besoin d’un moment.» Er holt tief Luft, wischt sich eine Träne aus dem Auge: «Wissen Sie, es macht mich wirklich traurig, dass die zwei Grossen nicht wie meine kleine Tochter mit ihren beiden Elternteilen aufwachsen können.»
Dank seinem Beruf ist Yves finanziell abgesichert. So kann er sich die regelmässigen Reisen nach Griechenland leisten. Auch in den juristischen Kampf um seine Kinder habe er viel Geld gesteckt: «Ich weiss mich glücklich schätzen, denn ich habe wenigstens die Möglichkeit gehabt, zu versuchen, mich zu wehren. Das bleibt vielen Vätern verwehrt.»
Marina wollte keine Stellung nehmen.
*Name geändert.
**Vollständiger Name der Redaktion bekannt.