Mario Hellers Poträtserie von jungen Menschen im Kosovo, die der aktuellen Auswanderungswelle trotzen, ist bei unseren Lesern auf grosses Interesse gestossen und hat in der Kommentarspalte eine engagierte Diskussion ausgelöst. Im Interview spricht der Fotograf aus dem aargauischen Muri über seine Balkan-Begeisterung, wo die Verstossenen Pristinas leben und wie es zu der Bildserie kam.
Was war deine Motivation für dieses Projekt?
Mario Heller: Ich war vor anderthalb Jahren in Bosnien, mein ersten Mal in einem Balkanland. Anlass war eine
Reportage über die Überschwemmungen, welche die Region damals heimsuchten. Dabei fiel mir
die offene und warme Mentalität der Menschen auf. Als ich im Januar dieses Jahr über die
Flüchtlingsströme las, entschied ich, in den Kosovo zu gehen und mir selbst ein Bild der Lage zu
machen. Einen genauen Plan, was ich dort machen würde, hatte ich zu Beginn noch nicht.
Wie kam es zu der Idee mit den Porträts?
Ich hatte im Vorfeld über Facebook Kontakt zu verschiedenen Personen vor Ort. Am zweiten Tag
sollte mir jemand Pristina zeigen. Ich traf ihn bei sich zu Hause und wir kamen ins Gespräch.
Daraus entstand ein spannendes Interview mit Porträtbild. Da wurde mir klar, dass ich eine
Geschichte gefunden hatte, die sich weiterentwickeln lässt und meine drei Wochen im Kosovo
ausfüllen würde.
Was hat dich am meisten überrascht?
Ich hatte in der Schweiz schon verschiedentlich mit Kosovaren zu tun und dabei vereinzelt auch
schlechte Erfahrungen gemacht. Während den gesamten drei Wochen im Kosovo wurde ich
hingegen kein einziges Mal provoziert oder dergleichen. Alle freuten sich, mit jemandem aus
Westeuropa zu sprechen. Auch von Neid war absolut nichts zu spüren.
Das könnte auch daran liegen, dass du ausschliesslich mit gut situierten Kosovaren zu tun
hattest, wie auch ein watson-Leser kommentierte.
Ich hätte gerne auch mit anderen Leuten gesprochen. Da gibt es zum Beispiel Plemetina, ein
Vorort vom Pristina in der Nähe des Kohlekraftwerks. Dort leben vor allem Roma und Serben in
ziemlich ärmlichen Verhältnissen. Ich habe dort einige Porträts gemacht, aber die Sprachbarriere
war zu gross, weil niemand Englisch oder Deutsch spricht. Und mit einem Übersetzer wollte ich
das nicht machen, da geht zuviel verloren.
So kam es zu Porträts über Künstler und Studenten. Empfandest du das als grossen
Kontrast zur kosovarischen Diaspora in der Schweiz?
Ja, und dafür gibt es auch gute Gründe, die von Rina (eine der Porträtierten), schlüssig dargelegt
wurden. Die Kosovaren, die in den 1990er-Jahren ihre Heimat verliessen, haben sich anders
entwickelt als jene, die geblieben sind. Ihre Sprache ist stehengeblieben und wirkt in Pristina
antiquiert. Die Situation in der Schweiz ist einfach nicht zu vergleichen, nicht zuletzt wegen der
Vorurteile, die manche gegenüber Menschen aus dem Balkan haben.
Aufgrund dessen, was du im Kosovo gesehen hast: Wärst du einer von jenen, die ihr Glück
anderswo suchen oder würdest du bleiben?
Ich denke, ich würde bleiben. Klar, die Menschen, mit denen ich zu tun hatte, waren ein Stück weit
privilegiert, ihre Eltern hatten Jobs. Auf der anderen Seite eröffnen sich im Kosovo viele
Möglichkeiten, wenn man sich anstrengt und etwas erreichen will. Ich erinnere an Ares, den 23-
jährigen Kinodirektor. Allerdings befinden sich auch erfolgreiche Leute in einem Zwiespalt: Sie
würden gerne im Ausland studieren, sehen ihre Zukunft aber im Kosovo.
Hast du dich auch über politische Themen unterhalten, etwa das Verhältnis zu Serbien?
Ja, die Reaktionen waren unterschiedlich. Viele beteuerten, nichts gegen Serben zu haben, und
beschuldigten die Politiker auf beiden Seiten, den Konflikt zu schüren. Dass Mitrovica noch immer
eine geteilte Stadt ist, zeigt, dass das immer noch verfängt. Die berüchtigte Brücke hätte ich mir
gerne angesehen, aber dafür fehlte am Schluss die Zeit.
Wie ist das Echo auf deine Arbeit?
Bis jetzt eigentlich durchgehend positiv. Meine Fotografen-Kollegen fanden die Bilder toll. Auch die
Porträtierten sind begeistert, viele verwenden das Porträt als Profilbild. In der
Kommentarspalte bei watson waren die meisten Rückmeldungen positiv. Bevor ich in den Kosovo
ging sorgten sich meine Eltern und einige Freunde um mich. Es gäbe da nur Banditen, meinten
sie. Von meiner Arbeit sind sie überrascht, wie «normal» die Menschen dort sind.
Hast du schon Pläne für ein Nachfolgeprojekt im Kosovo?
Ja, in besagtem Plemetina, wo die Verstossenen Pristinas leben, würde ich gerne eine Reportage
machen. Oder in Dörfern, wo ausschliesslich bosnische Kosovaren leben, abgeschieden vom Rest
des Landes. Generell würde ich das nächste Mal den Fokus weg von den urbanen Zentren auf die
ländliche Bevölkerung legen.
Hast du gesehen, dass sich einer unserer Leser als Dolmetscher anbietet?
Das habe ich mit grosser Freude gesehen, wir werden in Kontakt treten. Vielleicht
ergibt sich ja eine Zusammenarbeit!