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Maudet nach Nizza: Anti-Terror-Schulung für jeden Polizisten

Pierre Maudet, a gauche, conseiller d'Etat genevois, en charge du departement de la securite et de l'economie donne un discours ce lundi 9 mai 2016 a geneve, lors de l'inauguration offi ...
Der Genfer Sicherheitsdirektor Pierre Maudet kritisierte in der Vergangenheit mehrmals den Bund, weil er dessen Vorkehrungen zur Terrorbekämpfung für ungenügend hält.Bild: KEYSTONE
Interview

Genfer Sicherheitsdirektor: «Alle Polizisten sollten eine Anti-Terror-Ausbildung erhalten»

Nach dem Anschlag in Nizza fordert Genfs Sicherheitsdirektor Pierre Maudet eine spezielle Schulung für Polizisten: «Jeder Polizist muss fähig sein, einen verrückten Killer sofort auszuschalten.»
17.07.2016, 00:5517.07.2016, 10:02
Yannick Nock / Schweiz am Sonntag
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Ein Artikel von Schweiz am Sonntag
Schweiz am Sonntag

Herr Maudet, hat Sie der Anschlag in Nizza überrascht, oder mussten wir letztlich mit einem weiteren Terrorakt in Europa rechnen?
Pierre Maudet: Das hat mich nicht überrascht. So hart es klingt, aber mittlerweile haben wir uns beinahe an Terroranschläge gewöhnt. Trotzdem machen solche Attacken noch immer betroffen. Genf hat eine sehr grosse französische Gemeinschaft und hunderttausende Grenzgänger. Wir spüren sofort, wenn in Frankreich etwas Schreckliches passiert.

Haben wir mit der Amokfahrt von Nizza ein neues Level von Anschlägen erreicht?
Ja, das war eine neue Dimension des Terrors. Zuerst hatten wir den 11. September, als eine Gruppe von aussen den Terror ins Land brachte. In Paris handelte es sich diesen November ebenfalls um eine gut organisierte Gruppe, die aber grösstenteils in Europa geboren oder sozialisiert wurde. Nun erreichen wir eine neue Phase: Eine hier lebende, aber isolierte Person, die allein und ohne Sprengstoff agiert. Die Einzeltäter versuchen, mit einem minimalen Aufwand den maximalen Schaden anzurichten.

Wie lassen sich solche Lastwagen-Anschläge wie in Nizza verhindern?
Das ist fast unmöglich, es ist ein neuer Amok-Stil.

In drei Wochen beginnt das Stadtfest «Fêtes de Genève». Muss Genf die Sicherheitsmassnahmen nun erhöhen?
Wir haben erst vor wenigen Tagen über die Vorkehrungen gesprochen und werden uns auch nächste Woche nochmals absprechen. Grosse Menschenmassen sind immer ein Risiko. Wir erwarten eine halbe Million Besucher an der Promenade. Deshalb haben wir reagiert. Wie beim Public Viewing während der Europameisterschaft wird mehr Sicherheitspersonal vor Ort sein, in Uniform und in zivil.

Reicht das, um einen Lastwagen zu stoppen?
Wir warten ab, welche Informationen uns die französischen Behörden geben werden. Ich weiss nicht, wie hilfreich eine Panzersperre gewesen wäre. Und das ist ja nicht das einzige Problem: Die Tat eines Einzelnen kann auch der Nachrichtendienst kaum verhindern. Die Täter müssen sich nicht absprechen und sie kaufen weder Sprengstoff noch Kriegswaffen.

Wo kann die Schweiz ansetzen?
Wir müssen unsere Sicherheitskräfte besser auf die neuen Gefahren schulen. Alle Polizisten sollten eine spezielle Anti-Terror-Ausbildung erhalten. Der Beamte, der zuerst vor Ort ist, muss einen Terroristen sofort bekämpfen können. Wir können uns nicht erlauben, auf das Spezialkommando zu warten. Das hat man in Nizza gesehen. Jeder Polizist muss fähig sein, einen verrückten Killer sofort auszuschalten. Er muss das Feuer eröffnen, bevor etwas Schlimmeres passiert. In Genf haben wir unsere Einsatzdoktrin bereits daraufhin überarbeitet. Das reicht aber nicht, die Grundausbildung muss sofort angepasst werden, wie wir es auch im Wallis und Waadtland gemacht haben.

«Das Fedpol und der Nachrichtendienst haben ihren Personalbestand aufgestockt. Aber wir hinken im internationalen Vergleich noch hinterher.»
Maudet über die Terrorbekämpfung in der Schweiz

In Nizza war die Polizei schnell vor Ort, stoppen konnte sie den Attentäter trotzdem nicht.
Das ist in einem solchen Fall immer schwierig. Ich war letzte Woche in Paris und habe mich mit Sicherheitskräften und Feuerwehrmännern unterhalten. Sie sind wirklich müde. Nicht überfordert, aber müde. Der Ausnahmezustand in Frankreich hält nun schon seit acht Monaten an. Das ist ein Risiko. Irgendwann passieren Fehler. Ob das in Nizza der Fall war, wissen wir aber noch nicht.

Dann benötigen wir also mehr Polizisten?
Nicht unbedingt, aber es ist eben schwierig, den Ausnahmezustand über Monate aufrechtzuerhalten. Das haben wir im Dezember auch in Genf gesehen, als wir wegen der Fahndung nach mutmasslichen Terroristen die Warnstufe erhöhten.

Damals sagten Sie, der Bund sei in der Terrorbekämpfung «blind und taub». Bleiben Sie bei Ihrem vernichtenden Urteil?
Die Situation hat sich etwas gebessert. Das Fedpol und der Nachrichtendienst haben ihren Personalbestand aufgestockt. Aber wir hinken im internationalen Vergleich noch hinterher. Unsere Entwicklung verläuft wahnsinnig langsam. Zuversichtlich stimmt mich aber, dass Politiker aus allen Landesteilen den Terror heute deutlich ernster nehmen als noch vor einem halben Jahr.

epa05426298 Police secure the area where a truck drove into a crowd during Bastille Day celebrations in Nice, France, 15 July 2016. According to reports, at least 84 people died and many were injured  ...
«Ein neuer Amok-Stil» sei der Einsatz eines Lastwagens in Nizza gewesen, sagte Maudet. Er wartet auf Informationen aus Frankreich.Bild: EPA/DPA

2017 und 2019 stehen nationale Krisenübungen an. Sie wollen diese ganz dem Terror widmen.
Wenn das nicht schon vor Nizza klar war, ist es nun eindeutig: Wir müssen durchspielen, wie Polizei und Armee auf einen Terroranschlag in einer oder mehreren Schweizer Grossstädten reagieren sollte. Wir können es uns nicht leisten, unvorbereitet zu sein.

Rechnen Sie tatsächlich mit einem Anschlag in der Schweiz?
Es gibt momentan keine Anzeichen, die Alarmbereitschaft zu erhöhen. Trotzdem dürfen wir nicht naiv sein. Die Schweiz wird von Terrorgruppen nicht als neutral wahrgenommen. Wir sind ein christliches und reiches Land inmitten Europas. Besonders Genf als Heimat der UNO und Stadt der Freiheit könnte Zielscheibe für radikale Kreise sein. Ich bin froh, dass unser Stadtfest dieses Jahr nicht mehr drei Wochen dauert, sondern nur zehn Tage.

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