Was hat sich in den letzten Monaten wohl in Theresa Mays Kopf abgespielt? Wie oft hat sie den Entscheid ihrer Vorvorvorgänger vor bald 100 Jahren verflucht? Die damalige britische Regierung hatte im Anglo-Irischen Vertrag von 1921 durchgesetzt, dass die sechs Grafschaften der irischen Provinz Ulster, die mehrheitlich von loyalen Protestanten bewohnt waren, im Königreich blieben.
Daraus entstand das heutige Nordirland und damit der grösste Stolperstein beim Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union. Die Teilung Irlands war in mancher Hinsicht mehr ein Fluch denn ein Segen. Mit ihr entstand jene Grenze, die unbedingt offen bleiben soll, damit militante Republikaner im Norden nicht erneut zu den Waffen greifen.
BREAKING: The government has lost the meaningful vote on Theresa May's Brexit deal by 391 votes to 242.
— Sky News (@SkyNews) 12. März 2019
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Premierministerin May hat deshalb mit der EU den so genannten Backstop ausgehandelt, der den Brexit-Hardlinern ein Dorn im Auge ist. Sie haben Mays Austrittsvertrag am Dienstag im Unterhaus ein zweites Mal zu Fall gebracht. Es war der Auftakt einer turbulenten Woche in Westminster, die den Beweis erbracht hat, dass im Brexit-Chaos immer noch eine Steigerung möglich ist.
An ihrem Ende ist man kaum weiter als zuvor. Fest steht eigentlich nur, dass ein harter No-Deal-Brexit vom Tisch ist, ebenso zumindest vorläufig eine zweite Volksabstimmung. Das Parlament hat nun faktisch die Wahl zwischen zwei Optionen: Entweder stimmt es dem May-Abkommen am nächsten Mittwoch im dritten Anlauf zu, oder der Brexit wird verschoben, vielleicht auf unbestimmte Zeit.
Der Gipfel des Irrsinns ist, dass die konservative Regierungschefin mit dieser Strategie sogar durchkommen und die Hardliner im dritten Anlauf zum Einlenken bewegen könnte. Dazu beitragen könnten die vage und aus juristischer Sicht waghalsige Annahme, die Briten könnten den Backstop allenfalls auch ohne Vereinbarung mit Brüssel einseitig aufkündigen.
Einfach ist Theresa Mays Aufgabe nicht. Der Vorsprung des Nein-Lagers schrumpfte in der zweiten Abstimmung von 230 auf 150 Stimmen, aber das ist immer noch sehr viel. Und die Mehrheitsverhältnisse im Unterhaus sind wackelig. May braucht für einen Erfolg wohl Stimmen von Labour-Abgeordneten, unter denen es einige Brexit-Befürworter gibt.
Falls May Erfolg hat, würde sich exakt das Szenario abspielen, das ihr Chefunterhändler Olly Robbins im Februar beim Feierabendbier in einer Brüsseler Bar in Hörweite eines britischen Fernsehjournalisten ausgeplaudert hatte: Die ultimative Abstimmung bis zum letztmöglichen Zeitpunkt verzögern, damit die Hardliner mit der Aussicht auf einen Endlos-Brexit doch einknicken.
UK PM Theresa May says #Brexit options "are the same as they always have been", warning "no Brexit at all" would damage "fragile trust" between British public and MPshttps://t.co/r6u92tA4AD pic.twitter.com/MoUpYcT3Jj
— BBC Breaking News (@BBCBreaking) 13. März 2019
Selbst wenn Theresa May damit durchkommt, dürften ihre Tage in Downing Street Nr. 10 gezählt sein. Ihre Glaubwürdigkeit hat sie längst verspielt. Statt nach der knappen Abstimmung im Juni 2016 einen breiten nationalen Konsens zu suchen, umgarnte sie bloss die Brexiteers und machte sich von ihnen abhängig. Sie hat die Gräben im Land vertieft und die Menschen im Königreich entzweit.
International hat man das zur Kenntnis genommen. Die Zahl der bislang vereinbarten Post-Brexit-Handelsverträge – unter anderem mit der Schweiz – lässt sich an einer Hand abzählen. Kommen die Briten mit ihren Wünschen angerauscht, werden sie nicht als stolzer Lord Nelson wahrgenommen, sondern als trotteliger Mr. Bean mit seinem Mini.
Für die Schweiz, die derzeit ebenfalls um ihr künftiges Verhältnis mit der EU ringt, sollte dies eine Warnung sein. Diese Woche fanden die Konsultationen des Bundesrats mit den Parteien und den Sozialpartnern zum institutionellen Abkommen (InstA) statt. Von einem Durchbruch war man weit entfernt. Die verschiedenen Akteure beharrten auf ihren Positionen.
Sind die Entspannungssignale der letzten Wochen also schon Vergangenheit? Nicht unbedingt. «Hinter den Kulissen ist einiges in Bewegung geraten», sagt ein SP-Nationalrat. Aus der bürgerlichen Mitte kommen ähnliche Signale. Die Chancen, dass sich die bewährte Bilateralen-Allianz aus SP, FDP und CVP wieder finden wird, sind intakt.
Der Weg ist noch weit, auch in diesem Fall gibt es Stolpersteine, allen voran den Lohnschutz. Dennoch besteht Hoffnung, dass die Schweiz nicht in die Briten-Falle tappen wird. Einig ist man sich über alle Lager hinweg, dass der bislang führungsschwache Bundesrat versuchen wird, seinen Entscheid für oder gegen das InstA bis nach den Wahlen im Oktober hinauszuschieben.
Ein Hindernis dafür könnte die von der EU nur bis Mitte Jahr befristete Anerkennung der hiesigen Börsenregulierung sein. Vielleicht aber ist Brüssel zu einer weiteren Fristerstreckung bereit. Die EU-Finanzminister jedenfalls haben der Schweiz bei den Unternehmenssteuern eine «Gnadenfrist» bis Ende Jahr gewährt, aus Rücksicht auf die Steuer-AHV-Abstimmung im Mai.
Wird die Schweiz sich beim Rahmenabkommen auf den gesunden Menschenverstand besinnen? Die Briten haben vorgemacht, wie man es nicht machen sollte. Mr. Bean taugt nicht als Vorbild.
Böse Zunge behaupten, dass sich eher die EU von selbst auflöst, als dass die Engländer ein Ergebnis zum Brexit erzielen werden.