Frau Beyeler, die Schweiz ist das einzige Land in Europa, das weder eine Elternzeit noch einen Vaterschaftsurlaub kennt. Wie kommt's?
Michelle Beyeler: Das Schweizer System ist traditionell stark auf den Mann als Haupternährer ausgerichtet. Das Modell der Hausfrau hielt sich viel hartnäckiger als anderswo – auch, weil wir ein reiches Land sind und es sich viele Familien leisten konnten, dass nur ein Elternteil arbeitet. Zudem kann die Referendumsdemokratie hemmend wirken: Neuerungen werden nur zögerlich beschlossen. Schliesslich ging es auch fast 60 Jahre, bis eine Mutterschaftsversicherung eingeführt wurde.
Letzte Woche haben Familien- und Männerorganisationen eine Volksinitiative eingereicht, die einen vierwöchigen Vaterschaftsurlaub fordert. Welche Chancen geben Sie dem Anliegen?
Es wird schwierig, das Ständemehr zu erreichen. Sicher wird die Initiative aber die Debatte über Familienmodelle und die Rollenteilung bei Schweizer Paaren ankurbeln.
Reichen denn vier Wochen Urlaub, um traditionelle Rollenmuster aufzubrechen?
Natürlich ist das nur ein Anfang. Erfahrungen aus anderen Ländern zeigen jedoch, dass ein solcher Daddy-Monat nachhaltig ist: Die Väter engagieren sich langfristig mehr in der Kindererziehung, weil sie von Anfang an in ihre Rolle finden. In der Schweiz bekommt ein Mann nach der Geburt des Kindes nicht länger frei als für einen Umzug – einen einzigen Tag. Der Gesetzgeber sendet so das Signal aus, dass die Kindererziehung Frauensache sei.
Alle Länder um uns herum kennen eine Elternzeit, viele auch einen Vaterschaftsurlaub. Dann müssten die Paare in der EU also gleichberechtigter leben.
Nein, so einfach ist das nicht. Zum einen bestimmen kulturelle Faktoren, wie Männer und Frauen die Haus- und Erwerbsarbeit aufteilen. Und zum anderen ist Elternurlaub nicht gleich Elternurlaub: Ist er wie in Grossbritannien oder Spanien unbezahlt, besteht er nur darin, dass der Arbeitgeber die Stelle der Mutter oder des Vaters freihält. Viele Paare können es sich aber gar nicht leisten, länger ohne Lohn zu Hause zu bleiben. Dann existiert der Urlaub für viele Familien nur in der Theorie.
Es fällt auch auf, dass in manchen Ländern die Frau fast die gesamte Elternzeit allein bezieht – in Osteuropa etwa.
Bezieht die Mutter den grössten Teil des Urlaubs und bleibt dadurch im Extremfall mehrere Jahre zu Hause, wird ein Wiedereinstieg im Job erschwert. Eine solche Elternzeit zementiert die traditionelle Rollenteilung also eher, als dass sie die Gleichstellung fördern würde. Länder wie Norwegen, Schweden oder seit 2007 auch Deutschland versuchen dies zu verhindern: bei ihnen verfällt ein Teil des Elternurlaubs, falls nur ein Elternteil davon Gebrauch macht.
Der Gedanke, dass der Staat Paaren eine gleichberechtigte Aufgabenteilung aufzwingen will, dürfte vielen Stimmbürgern nicht geheuer sein.
Wir müssen uns bewusst sein, dass der Staat immer Anreize schafft. Beim heutigen Modell wird die traditionelle Rollenteilung bevorzugt, da ausschliesslich die Mütter das Recht auf einen bezahlten Unterbruch der Erwerbsarbeit haben. Demgegenüber liesse ein Modell, bei dem Mutter und Vater gleich viel Urlaub zugute haben – beispielsweise je 14 Wochen –, den Eltern mehr Freiheiten bei der Wahl des Familienmodells.
Ein solches Modell wäre aber nicht gratis zu haben.
Es gilt zu überlegen, was die Investition langfristig bringt. Wenn sich die Paare die Erwerbs- und Familienarbeit stärker teilen, wird verhindert, dass gut ausgebildete Frauen ihren Job nach der Geburt des ersten Kindes an den Nagel hängen oder nur noch in einem kleinen Pensum arbeiten. Dies käme der Wirtschaft zugute. Aber auch die Allgemeinheit würde stark profitieren: Ziehen sich Frauen während der Beziehung ganz oder teilweise aus dem Erwerbsleben zurück, können sie im Falle einer Trennung oft keinen existenzsichernden Lohn mehr erwirtschaften. Damit steigt das Risiko, von Sozialleistungen abhängig zu werden.
Oft hört man, junge Paare seien heute perfekt gleichberechtigt – bis das erste Kind da sei. Das wird aber kaum nur am fehlenden Vaterschaftsurlaub liegen?
Nein, verantwortlich dafür sind ganz viele Rädchen im System: das Angebot an Krippenplätzen, die Schulzeiten der Kinder, die Arbeitszeiten der Eltern, das Steuersystem, die Subventionen für die Kinderbetreuung. Auch hier zeigt ein Blick über die Grenze, wie verschiedene Anreize zu unterschiedlichen Familienmodellen führen: In den Niederlanden ist es am verbreitetsten, dass beide Elternteile etwa 60 Prozent arbeiten. In Skandinavien, wo die externe Kinderbetreuung stärker ausgebaut ist, ist die Aufteilung 80/80 dagegen populärer.