Albert Werder steht vor dem Schulhaus Bürgli und raucht. In seinen Haaren scheint die Freiheit zu kleben. Gebändigt mit ein bisschen Wachs. Die Probleme, mit denen die Schüler zu ihm kommen, sind sehr vielfältig. Stunk mit einer Lehrperson. Mädchen, die sich von Jungs bedrängt fühlen. Weil sie Whatsapp-Nachrichten kriegen wie: «Hey, willst du mir einen blasen?» Häusliche Gewalt ist ebenso ein dunkles Kapitel, mit dem sich Werder manchmal herumschlägt. Er ist für alles da. Schulsozialarbeiter seien «die Troubleshooter der Schulhäuser».
Was für «Mädchen»-Probleme gibt es?
Albert Werder: Auffällig bei den Mädchen ist, dass sie eher territoriale Kämpfe ausfechten. Die Mädchen, die «gemobbt» werden, passen meist nicht ins gängige Muster. Obwohl man diese Wörter «Mobbing» und «Opfer» mit Vorsicht geniessen sollte. Heute ist jeder zweite ein Opfer. Und ich bin zu meiner Schulzeit wahrscheinlich voll der Mobbing-Täter gewesen.
Was macht ein typisches Mobbing-Opfer aus?
Ein Mädchen, gut bürgerlich, angepasst, anständig, sie bringt gute Noten nach Hause und sie zieht sich nicht sehr modebewusst an. Das sind fünf Faktoren, die dafür sorgen, dass sie von den anderen ausgeschlossen wird.
Was ist mit den Mädchen, die einen Migrationshintergrund haben – kommen sie mit anderen Angelegenheiten?
Viele der Mädchen mit muslimischen Wurzeln machen einen permanenten Spagat zwischen zwei Kulturen. Das äussert sich zum Beispiel an der Kleidung. Im Winter fällt das nicht so auf. Aber im Sommer, da fragen sie sich: Wie offenherzig laufe ich rum? Es ist eine Gratwanderung. Einerseits wird zuhause nicht toleriert, dass sie im kurzen Rock zur Schule gehen, andererseits wollen sie mit dem Rest der Mädchen mithalten.
Wie kriegen sie diesen Spagat hin?
Ich hatte mehrere Mädchen, die sich bei einer Freundin eine zweite Garderobe eingerichtet haben. Sie gehen vor der Schule dahin, um sich umzuziehen. Und danach nochmal, um wieder den elterlichen Ansprüchen gerecht zu werden.
Und wie ist das bei den Jungs?
Es gibt ein paar dieser «kleinen Prinzen» mit türkischem, tamilischem, albanischem oder sonst einem Hintergrund, die alles dürfen: In den Ausgang, Playstation spielen. Von Zuhause aus werden ihnen keinerlei Grenzen auferlegt, und auch die schulischen Leistungen sind egal. Während bei ihren Schwestern ganz andere Massstäbe angesetzt werden. Ich will damit nicht alle Muslime über einen Kamm scheren. Aber diese patriarchalischen Strukturen stelle ich mehrheitlich im Migrationsbereich fest.
Sie haben auch Fälle von häuslicher Gewalt erwähnt ...
Es gab da mal den Fall von zwei Geschwistern mit Migrationshintergrund. Ihre Eltern wurden geschieden und der Sohn übernahm dann Zuhause die Vaterrolle für seine jüngere Schwester. Er schrieb ihr vor, mit welchen Jungs sie sich treffen darf und mit welchen nicht. Das ging so weit, dass er sie grün und blau schlug, weil sie ihm nicht gehorchte.
Was passierte mit dem Mädchen?
Sie kam danach ins Kinderschutzzentrum. Sie war keine Heilige. Aber sie war pubertär und wollte sich ausprobieren. Nur liess sich das nicht mit ihrem muslimischen Hintergrund vereinbaren. Der Bruder jedoch hat seine Freundinnen wie Unterhosen gewechselt. Er durfte das. Weil er ein Mann ist.
Versuchen Sie in solchen Fällen auch mit den betroffenen Familien zu reden?
Klar, wir schieben das Ganze nicht einfach an andere Behörden ab. Aber es ist sehr schwierig, die Familien auf solche Dinge zu sensibilisieren. Unsere Mittel sind beschränkt. Das ist ein gesellschaftspolitisches Thema, an dem wir wohl noch lange zu beissen haben.
Diese Dinge haben also auch immer mit kulturellen Unterschieden zu tun. Wie soll man mit diesen gesellschaftspolitisch verfahren?
Ich finde, man muss sie offen ansprechen. Wenn man sie thematisiert und offen darlegt, muss es ja nicht zwingend eine Wertung haben. Wenn zwei verschiedene Kulturen aufeinanderprallen, muss der Umgang damit einfach gelernt werden.
Und wie? Mit Benimm-Regeln wie im Kanton Luzern, die den Migranten zeigen sollen, wie sie sich an der Fasnacht gegenüber Frauen zu verhalten haben?
Dieser Knigge war ein Witz. Das hätte man in der Fasnachtzeitung abdrucken sollen. Für mich fängt die Sensibilisierung schon viel früher an. Und sie gilt für alle: Für Schweizer, für Ausländer, Männer und Frauen. Die Fasnacht lebt von einer archaischen Urkraft. Und die ist nun mal sexuell. Die Leute sind betrunken und maskiert. Wenn man diese Bühne betritt, muss man wissen, wie man mit dieser Energie umgehen muss. Ich glaube sowieso, dass die heutige Gesellschaft an einer vermeintlichen Enttabuisierung der Sexualität krankt.
Vermeintlich?
Es ist erst 45 Jahre her, seit die Frauen in der Schweiz abstimmen dürfen. Wir stecken selbst noch mitten in der Entwicklung der Gleichberechtigung. Und die Katholiken leben noch immer in der Vergangenheit: Das Zölibat wurde nicht abgeschafft. Ein weiblicher Papst ist unvorstellbar. Dass Frauen auch sexuelle Bedürfnisse haben, taucht erstmals ab 1965 in der Fachliteratur auf. Und darüber geschrieben hat ein Mann. Da frage ich mich, wie viele von uns Europäern sich denn wirklich von diesen alten Geschlechterrollen verabschiedet haben.
Das heisst, es gibt im Bereich Sexualität immer noch viel, worüber geschwiegen wird?
Die Sexualpädagogik hierzulande ist eher ein Tropfen auf den heissen Stein. Man macht in den Schulen Aufklärungs-Unterricht, spricht über Verhütung und den weiblichen Zyklus. Damit ist es erledigt. Dann kommt jedoch der Brandbeschleuniger Internet hinzu: Die ganze Sexualität wird reduziert auf pornographische Genitalsexualität. Ein Primarschüler kann mit drei Klicks über Schwanzlutschen und Gangbang so ziemlich alles konsumieren. Und dann wundern wir uns, dass unsere Kinder und die Mehrheit der Erwachsenen ein vollkommen mechanisches Bild der Sexualität haben.
Die neuen Medien, Internet, soziale Netzwerke, das wird also auch oft zum Thema?
Diese Dinge sind omnipräsent. Ich sage den Schülern oft: ‹Ich bin mit vierzehn nicht anders gewesen.› Auch wir haben uns in die Mädchengarderobe geschlichen und gehofft, etwas zu sehen. Aber wir hatten kein Handy, mit dem wir es aufgenommen haben. Sobald du filmst, bewegst du dich im strafrechtlichen Bereich und hast schon kinderpornographisches Material. Die Jungen sind nicht nur verwöhnt mit diesem Zeugs.
Sie versuchen den Schülern einen verantwortungsvollen Umgang beizubringen.
Genau. Aus meiner Arbeit bei der Suchthilfe habe ich eins gelernt: Die klassische Prävention in Sachen Alkohohol, Rauchen und Kiffen nützt wenig. Die Jungen müssen die Kompetenz entwickeln, wie man richtig mit dem «Verbotenen» umgeht. Was kifft ihr? Wann kifft ihr? Wo kifft ihr? Und mit wem kifft ihr? Das sind die zentralen Fragen. Wenn sich die Schüler um sieben Uhr Morgens vor dem Unterricht einen Indoor-Joint reinziehen, ist das vielleicht nicht der günstigste Zeitpunkt.
Gibt es auch Fälle von Diskriminierung aufgrund der Hautfarbe, der sexuellen Ausrichtung oder der Herkunft?
Ein Vater wollte nicht länger, dass sein Sohn zu einem schwulen Lehrer in den Unterricht geht. Er glaubte, sein Sohn würde Gefahr laufen, auch schwul zu werden. Ich habe ihn darauf hingewiesen, dass das, was er sagt, in eine Diskriminierung hineinlaufe.
Und der Schüler vertrat dieselbe Ansicht wie sein Vater?
Er sass ganz lässig in meinem Büro und sagte: ‹Schwule sind alle pervers.› Ich habe ihm gesagt, dass er diese Meinung haben, aber keinesfalls äussern dürfe. Weil er sich damit strafbar machen könne. Er hat es nicht verstanden, also habe ich ihm gesagt: ‹Und was machst du eigentlich hier an der Schule? Du bist schwarz.› Zuerst wurde er wütend. Aber dann hat er verstanden, dass ich ihm nur aufzeigen wollte, dass man Menschen weder aufgrund ihrer Hautfarbe, noch wegen ihrer sexuellen Ausrichtung diskriminieren darf.
Homosexualität sorgt immer noch für Diskussionen ...
Wir haben hier ein paar Lehrer, die stehen offen dazu. Und für die meisten ist das kein Problem. Aber für die Knaben und Mädchen, die auf der Suche nach ihren sexuellen Neigungen sind, schon. Sie stehen auf verlorenem Posten. Auch wenn wir hier Homoehen zulassen und es den Anschein macht, als würde alles so liberal gehandhabt. Aber was machst du, wenn du mit 16 unter der Dusche stehst und merkst, dass dich deine Mitschüler sexuell erregen? Es gibt wenig Anlaufstellen.
Das hört sich alles nach jeder Menge Probleme an. Lässt Sie das manchmal denken, dass Ihr Job für die Katz ist?
Nein, gar nicht. Die Schulsozialarbeit wurde in St. Gallen nach dem Lehrermord an Paul Spirig eingeführt. Sie ist wichtig, denn so können sich die Lehrer auf ihren pädagogischen Auftrag konzentrieren. Früher musste er sich um alles kümmern. Von Elterngesprächen bis hin zur Frage, ob Peter auch die richtigen Gummistiefel fürs Lager eingepackt hat. Er war nicht nur Lehrer. Er war Pfarrer, Seelsorger, Doktor und Vater. Heute ist alles derart komplex geworden, dem könnte ein Lehrer allein nie mehr gerecht werden.