1958 wird Lina Zingg als 18-Jährige in eine psychiatrische Klinik eingewiesen. Einige Monate später vermittelt man sie – mit der Diagnose Schwachsinn versehen – als Hausangestellte an eine Familie.
Dort arbeitet die Rheintaler Bauerntochter während über 50 Jahren ohne Frei- und Ferientage im Haushalt, wird sexuell missbraucht und misshandelt. Die Hausherrin drängt auf Entmündigung, macht aus der Dienstmagd einen Betreuungsfall, und kassiert dafür auch noch Geld. Die Zürcher Behörden werden erst 2011 aktiv, als die Töchter der Täterin einschreiten und eine Gefährdung melden.
Die Geschichte der Lina Zingg ist nicht nur die Geschichte einer Versklavung in gutbürgerlichem Milieu. Es ist auch eine Geschichte darüber, wie die Vormundschaftsbehörde sich täuschen liess und versagte. Die Journalistin Lisbeth Herger hat diese Geschichte im Buch «Unter Vormundschaft – Das gestohlene Leben der Lina Zingg» aufgeschrieben. Lina Zingg ist ein Pseudonym. Ihren richtigen Namen kennen nur Familienangehörige und die Journalistin Herger. Für Gespräche steht die mittlerweile 74-Jährige nicht zur Verfügung.
Lisbeth Herger*, Sie sagen, Lina Zinggs Geschichte sei zwar ein schockierender Extremfall, illustriere aber dennoch wesentliche Grundmuster der Schweizer Psychiatrie- und Vormundschafts-geschichte. Was meinen Sie damit?
Nicht als die junge Lina Zingg krank wird, werden die Behörden auf sie aufmerksam, sondern als sie nach einer durchzechten Nacht bei einem jungen Mann aufwacht. Das Mädchen hielt sich nicht an die herrschende Sexualmoral, also wurde ein Fall konstruiert, aus dem sie tragischerweise ihr ganzes Leben nicht mehr herausfand. Das hat zum einen mit der damaligen Moral und Religion zu tun, zum anderen mit den Mechanismen der früheren Vormundschaftsbehörden.
Welche Mechanismen?
Diese Behörde arbeitete mit Laien und war überfordert. Ein kleines Beispiel: Nach dem Aufenthalt in der psychiatrischen Klinik wurde Lina Zingg fremdplatziert. Ihr familiäres Umfeld sei eine Gefährdung für das Mädchen, hiess es. Den Vater entmündigte man. Danach aber vergass die Laienbehörde dieser kleinen Gemeinde Lina Zingg einfach. Betreut und beaufsichtigt wurde sie nicht mehr.
Lina Zingg wurde in einer Grossfamilie als Dienstmädchen untergebracht, wo sie von der Hausherrin jahrelang misshandelt, von deren Mann sexuell missbraucht wurde.
Diese Frau hatte ein Spielfeld, das sie voll ausnützte. Sie isolierte Lina von ihrer Herkunftsfamilie, erpresste sie, und wickelte die Behörden um den Finger. Sie kassierte später sogar Gelder, weil sie die Behörden davon überzeugte, Lina Zingg sei ein Pflegefall. Die Kontrollmechanismen funktionierten nicht. Niemand hatte genug Zeit, sich um den Fall zu kümmern. Gutachten wurden ungeprüft übernommen, allfälligen Zweifeln gar kein Raum gelassen. Mit Lina sprach man kaum allein.
Ist das heute besser?
Sicher. Die Geschichte der Lina Zingg zeigt sehr gut, dass der Systemwechsel, der zur KESB (Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde) führte, nötig war. Die Professionalisierung entlastete die Laien und bringt mehr individuell zugeschnittene Genauigkeit. Allerdings nur, wenn die Verantwortlichen auch genug Zeit haben, sich mit Zweifeln zu beschäftigen und mit den Betroffenen reden.
War das mit ein Grund, weshalb Sie Lina Zinggs Geschichte aufschrieben?
Ja, ich wollte zeigen, wie zufällig, schluderig und auch sehr machtvoll diese Vorgänge waren. Auch wie Menschen in Machtpositionen – beispielsweise Ärzte oder eben Lina Zinggs Hausherrin – mental und ökonomisch schwache Menschen vollkommen ausnutzen können. Zudem ist es eine typische Frauengeschichte. Dass man eine junge, psychisch erschöpfte Frau dann wegsperrt, als sie sexuell aktiv wird, ist nicht zufällig. In den 50ern, als in der Psychiatrie noch immer eugenische Gedanken mitwirkten, hat man moralisch auffällige Frauen anders kontrolliert als heute. Lina Zinggs Geschichte ist in diesem Sinne auch eine sehr typische Geschichte.
Wie wurden Sie auf Lina Zingg aufmerksam?
Mein erstes Buch war ebenfalls eine dokumentarische Biografie über eine administrativ Versorgte. Ich hatte also schon mit Menschen zu tun, die eine ähnliche Vergangenheit hatten. Durch darauf folgende Gespräche kam Lina Zinggs Geschichte zu mir. Ich wollte wissen, was da eigentlich gelaufen ist, habe die Aktien studiert und gemerkt, dass ihr Schicksal repräsentativ ist für einen Teil unserer Sozialgeschichte.
Am Ende des Buches danken Sie der Tochter der Hausherrin für Ihre Hilfe. War sie ihre Hauptquelle?
Meine Recherche basierte auf Dokumenten sowie persönlichen Gesprächen, auf Studien zur Zeitgeschichte und Informationen aus dem nahen Umfeld von Lina Zingg. Meine Hauptquelle sind aber die Dokumente: Akten der Vormundschaftsbehörden, ärztliche Gutachten, briefliche Korrespondenz. Eigentlich lässt sich die Geschichte nur schon anhand dieser Akten rekonstruieren …
Eigentlich?
Wenn ich die Geschichte nur anhand der Akten rekonstruiert hätte, wäre der ganze Täuschungsteil nicht Thema geworden. Wie die Hausherrin Lina Zingg erpresste, die verantwortlichen Personen bei den Behörden manipulierte, ihre Macht ausspielte … Das alles ist natürlich nicht aktenkundig. Auch die sexuellen Misshandlungen kamen nie zu Papier. Historische Fakten in den Akten sind die eine Wahrheit – Aussagen von Zeitzeugen die andere. In meinem Buch kommen beide zusammen, das war ein Glücksfall in diesem sehr tragischen Fall.
Hatten ihre Recherchen Konsequenzen für die Täterin?
Nein, rechtliche Folgen hatte es nicht. Letzten Sommer ist sie gestorben.
Haben Sie jemals mit ihr gesprochen?
Ich fand das für das Projekt dieses Buches nicht förderlich. Ich musste damit rechnen, dass sie sofort mit allen juristischen Mitteln versucht, das Buch zu verhindern. Das wollte ich nicht riskieren. Ich wusste aber auch, dass sie in keinerlei Art Einsicht in die Taten hat.
Wie nahm Frau Zingg den Tod auf?
Traurig sei sie nicht, sagte sie. Sie sei einfach froh, nicht mehr in diesem Haushalt zu sein. Sie hat mittlerweile genug Distanz, um sich nicht mehr schuldig zu fühlen, dass sie ihre Hausherrin verlassen hat.
Wie geht es ihr heute?
Sie ist eine traumatisierte Frau, aber sie hat sich körperlich und psychisch gut erholt. Man kann nicht sagen, sie sei putzmunter und fröhlich, aber sie kann die schlimmen Erfahrungen stark abspalten, das hilft ihr . Sie sagte mir zum Beispiel: ‹Du kannst schon ein Buch schreiben über dieses arme Mädchen›. Sie trennt dies von sich ab.
Und wie haben sie Distanz gewahrt? Sie haben sich immerhin drei Jahre lang mit dieser bedrückenden Geschichte beschäftigt.
Meine Arbeit hat mich gestützt. Die genaue Analyse der Dokumente haben mich immer weiter in das Projekt hinein getragen. Meine Emotionen liess ich dabei etwas beiseite. Die kommen erst jetzt.
Was für Emotionen?
Die Erschütterung über diesen Umgang mit Schwachen, auch wenn es mir nicht neu war. Ich selber habe als Kind solche versklavten Menschen als Nachbarn erlebt. Es war eine Tatsache, eine Realität im ländlichen Luzern, wo ich aufgewachsen bin. Die Geschichte Lina Zinggs war mir also nicht wirklich fremd. Es ist wirklich eine furchtbare Geschichte.