Frau Brunner, Sie gelten als Ikone der Frauenbewegung, als sozialdemokratische Übermutter. Ehrt Sie diese Bezeichnung?
Christiane Brunner: Ach, das ist doch übertrieben. Ich habe mich mein ganzes Leben für Frauen eingesetzt, für sie gekämpft und in ihren Forderungen vertreten. Aber als eine Ikone sehe ich mich nicht.
Heute ist der 8. März, internationaler Frauenkampftag. Wie wichtig ist Ihnen dieser Tag?
Sehr wichtig. Eine Zeit lang war es so, dass der 8. März der Tag war, an dem Frauenrechtlerinnen einfach ein wenig laut wurden. Danach verschwand das Thema das ganze Jahr aber wieder in der Schublade. Jetzt ist die Debatte wieder aktuell geworden. Es gibt wieder mehr Feuer. In vielen Ländern legen Frauen die Arbeit nieder. In Spanien haben vergangenes Jahr fünf Millionen Frauen gestreikt. Der Tag wird wieder intensiver wahrgenommen.
Warum ist das so?
Erstens wegen der Bewegungen in anderen Ländern, zum Beispiel in den USA. Zweitens weil mit den Ereignissen um «Metoo» die Debatte breiter geworden ist. Es hatte etwas Tabu-Brechendes. Das hat der Frauenbewegung Aufwind verschafft.
Wie haben Sie die Metoo-Debatte wahrgenommen?
Mit viel Freude. Weil die Frauen gemerkt haben, dass sie im Kollektiv eine Macht aufbauen können. Das hat mich wahnsinnig gefreut.
Sie waren die Initiatorin des Frauenstreiks 1991. Wie kam es dazu?
Ich war damals Gewerkschafterin bei der SMUV (Anm. d. Red.: Industriegewerkschaft, heute Unia). Uhrenmacherinnen aus dem Jura kamen zu mir, und beklagten sich über die Lohnungleichheit.
Damals war es schon zehn Jahre her, seit der Gleichstellungsartikel in der Bundesverfassung verankert worden war.
Wir waren eigentlich zufrieden, dass wir es 1981 geschafft hatten, dass der Artikel in die Bundesverfassung kommt. Doch zehn Jahre später wurde kein einziger Gesetzesartikel dazu erlassen. Nichts hatte sich bewegt. Wir hatten gekämpft und es hat nichts gebracht. Das enttäuschte uns.
Also dachten Sie: Es braucht einen Streik.
Es waren die Uhrenmacherinnen, die diese Idee aufwarfen. Ich wusste zuerst auch nicht, was ich damit anfangen sollte. Ein Streik braucht viel Infrastruktur, Geld und vor allem viel Enthusiasmus. Wir diskutierten lange und kamen dann zum Schluss, dass wir für einen Streik nicht nur die Frauen aus der Industriebranche, sondern alle Frauen in der ganzen Schweiz brauchen.
Wie nahmen das die männlichen Kollegen auf?
Ich machte mich dann auf die Socken und reiste durch das ganze Land, um die Gewerkschaftskollegen von der Idee zu überzeugen. Die waren natürlich zu Beginn sehr skeptisch. Sie dachten, dass das nicht klappen werde und auch nichts bringe.
Wie konnten Sie die Männer von der Idee überzeugen?
Ihre Frauen überzeugten sie! An den Sitzungen mit führenden Gewerkschaftsmitgliedern waren oft auch deren Ehefrauen dabei. Die standen auf und sagten: «Ich habe dir all die Jahre über gekocht, am 14. Juni mach' ich das nicht mehr!» So konnte zum Teil die Stimmung im Saal total gedreht werden.
Wie leicht liessen sich die Frauen für den Streik mobilisieren?
Das ging überraschend gut. Und Sie müssen sich vorstellen, damals hatten wir kein Handy und auch kein Internet. Uns half, dass der Frust bei vielen Frauen tief sass, dass es noch immer keine Gleichstellungsgesetze gab.
Und dann kam es am 14. Juni 1991 zum grössten Streik in der Schweizer Geschichte. Wie erlebten Sie den Tag?
Mit Angst. Es war schwierig, zu wissen was passieren wird und was überall läuft. Wir hatten vorgängig die Farben Pink und Lila als Streik-Farben definiert. Ich übernachtete in Bern und musste am Morgen auf den Zug nach Solothurn. Als ich zum Bahnhof ging, war ich überwältigt: Da waren alles Frauen in Pink. Da dachte ich, oh, vielleicht klappt es!
Eine halbe Million Frauen streikten. Waren Sie überrascht, dass so viele mitmachten?
Ja, und auch besorgt. Wir hatten ja nicht vorgegeben, was die Frauen statt zu arbeiten machen sollen. In Bern stürmten tausende Frauen mit Trillerpfeifen den Bundesplatz. Der war abgesperrt für eine Feier der 700-jährigen Eidgenossenschaft. Die Polizisten wurden ganz unruhig und wussten nicht, was machen. Ich hatte Angst, dass die Situation eskaliert und diesen Frauen etwas passiert. Aber dann konnte ich vermitteln und alles blieb ruhig. Erst am Abend vor dem Fernseher wurde mir klar, wie gross der Streik war.
Wie reagierten die Arbeitgeber?
Vor dem Streik gab es viele Drohungen von Arbeitgebern und vom Arbeitgeberverband. Einer von ihnen war Nicolas Hayek, Gründer der Swatch-Gruppe. Er verkündete, dass wenn sich eine Frau an dem Streik beteilige, ihr sofort gekündigt werde. Ich hab' Hayek dann angerufen und ihm erklärt, dass sich der Streik nicht gegen ihn richte, sondern die Frauen etwas in der Gesellschaft verändern wollen. Wir diskutierten und am Schluss hat er es begriffen und die Drohung zurückgenommen.
Was konnten Sie mit dem Streik bewirken?
Ganz konkret: Dass nach dem Streik endlich das Gleichstellungsgesetz verabschiedet wurde. Auch wurde mehr über Lohnungleichheit diskutiert, was aber nicht heisst, dass die Probleme verschwanden. Aber man begann, die Frauen mehr zu fördern. Und wichtig war, dass Frauen das Bewusstsein erlangten, dass sie die Dinge zusammen lösen müssen.
1993 wurden Sie nicht in den Bundesrat gewählt. War das die Retourkutsche für ihre aufmüpfige Frauenpolitik?
Wahrscheinlich. Ich habe immer gesagt, dass ich Feministin bin und es auch bleibe. Damals kam das gar nicht gut an. Als ich dann später in den Ständerat gewählt wurde, habe ich gehört, wie sie hinter meinem Rücken gesagt haben: «Achtung, jetzt kommt die rote Emanze.»
Hat Sie das verletzt?
Ich dachte nur, jaja, ich zeige denen schon, was so eine rote Emanze alles machen kann. Aber ich musste schwer schuften, um zu zeigen, dass ich nicht nur Frauen vertreten kann, sondern alle Dossiers gut im Griff habe.
Ihre Nicht-Wahl in den Bundesrat war damals eine grosse Enttäuschung für Sie. Welche Schlüsse haben Sie aus der Geschichte gezogen?
Dass man sogar mit einer Nicht-Wahl etwas bewegen kann. Danach kam es ja in der ganzen Schweiz zu spontanen Protesten und zuletzt wurde dann schliesslich doch noch eine Frau gewählt. Dass ich es nicht sein werde, war mir klar. Die Bundesversammlung hatte mich beim ersten Mal nicht gewählt, also wählte sie mich auch beim zweiten Mal nicht.
Am 14. Juni soll nach 30 Jahren wieder ein Frauenstreik stattfinden. Ist das überhaupt noch nötig?
Ja natürlich. Es ist klar, es hat sich noch viel zu wenig bewegt. Gerade bei der Lohngleichheit. Es braucht ein Gesetz, bei dem Arbeitgeber sanktioniert werden, wenn sie Frauen einen tieferen Lohn zahlen als Männern.
Was hat sich seit 1991 bezüglich Frauenrechte getan?
Es hat sich viel bewegt, aber auch viel zu wenig. Klar, es gab Fortschritte, zum Beispiel beim Pensionskassen-Splitting oder im Eherecht.
Was gibt es noch zu tun?
Bei der Vereinbarung von Familie und Beruf muss für Frauen und Männer noch viel gemacht werden. Frauen müssen noch mehr gefördert werden. Vor allem aber darf das Aufbegehren nie aufhören. Sobald man aufhört, geht es rückwärts. Es ist nicht stabil. Darum müssen die Frauen immer weiterkämpfen.