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Interview

«Man kann nicht in jedem Fach ein 5,5-Schüler sein»

Schüler der Kantonsschule Wetzikon demonstrieren am Tag der Bildung gegen geplante Budgetkürzungen im Bildungswesen des Kantons Zürich.
Schüler der Kantonsschule Wetzikon demonstrieren am Tag der Bildung gegen geplante Budgetkürzungen im Bildungswesen des Kantons Zürich.
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Interview

Schüler wollen keine verschärfte Matur: «Man kann nicht in jedem Fach ein 5,5-Schüler sein»

Bildungsminister Johann Schneider-Ammann und die kantonalen Erziehungsdirektoren wollen die Kompensation ungenügender Noten bei der Matur erschweren. Die Schüler sind strikt dagegen. Timothy Oesch, Sprecher der Zürcher Schülerorganisationen, im Gespräch über Mathe-Mühen, Matur-Einheitsbrei und revolutionäre Tendenzen. 
27.04.2016, 10:3227.04.2016, 11:30
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Die Klagen des Bildungsministers Johann Schneider-Ammann, der kantonalen Erziehungsdirektoren und der Universitätsrektoren sind bekannt: Ein zu grosser Teil der Maturanden bringt zuwenig Mathematikfähigkeiten und Deutschkenntnisse mit, um an einer Hochschule zu studieren. Schneider-Ammann und die Kantone denken deshalb darüber nach, die Anforderungen an die Maturanden und die Maturreglemente schweizweit zu harmonisieren. Und: Ungenügende Noten in Mathematik oder der Erstsprache des jeweiligen Landesteils, sollen nicht mehr so einfach kompensiert werden können. 

Die Schülerorganisationen wollen sich gegen diese Pläne wehren. Offenbar mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln. 

Herr Oesch, ich nehme an, Sie verfolgen die Pläne von Bildungsminister Schneider-Ammann und der Erziehungsdirektoren bezüglich Matur-Reformen mit Interesse?
Ja, das tue ich natürlich und nicht nur ich, beziehungsweise wir vom Dachverband der Zürcher Schülerorganisationen, sondern alle Schweizer Schülerorganisationen.

Timothy Oesch.
Timothy Oesch.bild: Yasmin Malli

Und verfolgen Sie die Pläne, die Maturitätsreglemente zu harmonisieren und die Kompensationsmöglichkeiten zu erschweren, mit Wohlwollen?
Das ist keine Frage des Wohlwollens oder Nichtwohlwollens. Die Frage ist, ob man es als sinnvoll erachtet, die Maturprüfungen schweizweit zu harmonisieren, um die Studierfähigkeit der Gymnasiasten sicher zu stellen.

Timothy Oesch 
Der 16-Jährige Oesch besucht das Gymnasium Zürich Nord in Zürich-Oerlikon und fungiert als Aktuar und Sprecher der Dachorganisation der Zürcher Schülerorganisationen. Oesch vertritt 20 von 21 Kantonalzürcher Gymnasien und damit die überwältigende Mehrheit der Zürcher Gymnasiasten. 

Moment, von schweizweit harmonisierten Maturprüfungen war doch gar nicht die Rede. Eher davon, dass Defizite in Mathematik und den Erstsprachen Deutsch, Französisch und Italienisch nicht mehr einfach mit guten Noten in anderen Fächern kompensiert werden können.
In den Medien ist das vielleicht so rübergekommen, weil sich diese Forderung leicht auf Schneider-Ammann personalisieren liess, aber die Konferenz der Kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK) bewegt sich auch in Richtung Vereinheitlichung der Maturitätsreglemente.

Ok. Und erachten die Schüler das Erschweren der Kompensationsmöglichkeiten und bundesweite Vereinheitlichen der Maturreglemente also als sinnvolle Massnahme, um sicherzustellen, dass am Ende der Schulzeit alle Gymnasiasten studierfähig sind?
Nein, das tun wir ausgesprochen nicht!

«Mit solchen Ideen wird nicht nur ein bisschen angepasst, da werden ganz neue Realitäten geschaffen.»

Weshalb? Was soll falsch sein daran, wenn man für alle gleich lange Spiesse schafft? Wenn die Maturitätsquoten in der Innerschweiz nicht mehr viel tiefer sind als beispielsweise in Basel-Stadt?
Nun, die Studierfähigkeit sollte natürlich durch jede schulinterne Maturität gewährleistet werden, das ist klar, und mit dieser Forderung gehen wir auch einig. Die schweizweite Harmonisierung ist aber der falsche Weg, denn dann könnte die derzeitige Profilierung durch die angebotenen Profile nicht aufrecht erhalten werden.

Welche Profile meinen Sie?
Wir haben im Kanton Zürich verschiedene Profile mit neu- und altsprachlichen oder musischen Schwerpunkten, solche mit Wirtschaft und Recht oder solche mit naturwissenschaftlichen Fächern als Schwerpunkte. Wenn nun die Maturreglemente schweizweit gleichgemacht werden, dann werden diese Profilentscheidungen in den Hintergrund gestellt.

Ja, aber wenigstens können dann wieder alle Maturanden einen Text lesen und verstehen und quadratische Gleichungen lösen. Heutzutage ja keine Selbstverständlichkeit mehr, wenn man sich bei den Universitätsrektoren und -dozenten umhört.
Eine gewisse Basis an Kompetenzen muss da sein, damit man an die Hochschule gehen kann und die Erstsprache und Mathematik spielen da eine grosse Rolle, das ist uns auch klar. Aber mit solchen Ideen, wie sie jetzt Schneider-Ammann, beziehungsweise die EDK vorbringen, wird nicht nur ein bisschen angepasst, da werden ganz neue Realitäten geschaffen, die tiefgreifende Änderungen für die Schülerinnen und Schüler mit sich bringen.

Warum? Sie müssen nur einfach genügende Noten in Mathematik und Deutsch haben. Dann können Sie doch so viel Wirtschaft, Recht und Musik machen, wie Sie möchten?
Nein, so einfach ist es eben nicht. Im Gymnasium findet, ob mit oder ohne formelle Profilwahl, spätestens im zweitletzten Jahr eine Profilierung, das heisst eine Konzentration auf bestimmte Fächer, statt. Das ist einfach Fakt, Sie können nicht in jedem Fach ein Fünfeinhalber-Schüler sein. Und wenn man sich für ein Profil entscheidet, dann hat man da ja schon etwa im Auge, was man später studieren möchte.

«Wir gehen davon aus, dass die Leute an den Hochschulen eher wegen falscher Lernstrategien scheitern.»

Aber es scheint ja nichts zu nützen. Die Drop-out-Quoten an den Universitäten sind unverändert hoch, weil die Maturanden offenbar nicht einmal in denjenigen Studienfächern bestehen können, auf die sie sich schwerpunktmässig vorbereitet haben.
Falsch. Völlig falsch. Man geht zwar gern, wie eben jetzt auch wieder, davon aus, dass die Maturanden an den Hochschulen wegen Kompetenzdefiziten in Schlüsselfächern scheitern, aber das ist nicht der einzige Grund. Die Evaluation der Maturreform, die zwischen 2005 und 2008 gemacht worden ist, zeigt, dass die Leistung der Maturandinnen und Maturanden eindeutig genügen und keine Kursänderung nötig ist.

Vielleicht schon. Laut der von Ihnen zitierten Evaluation EVAMAR II haben kantonale Quoten und andere Faktoren einen Einfluss auf den Wissensstand der Maturanden. Die Matur bereitet nicht überall gleich gut auf die Hochschule vor.
Wir gehen davon aus, dass die Leute an den Hochschulen eher wegen falscher Lernstrategien scheitern. Und dann sollte man auch da ansetzen und diese Lernstrategien fördern. Bei der finalen Leistungsprüfung an der Matur danach aussiebeln, ob jemand in Naturwissenschaften die gleichen Fähigkeiten mitbringt wie in den geisteswissenschaftlichen Bereichen, ist aus Schülersicht mehr als suboptimal.

Schauen wir es doch mal so an: Schneider-Ammann will einfach eine tiefere Maturquote, weil er die Berufslehre im Zug der Akademisierung des Bildungwesens wieder stärken will.
Ob es ihm damit gelingt, die Maturitätsquote zu senken, kann ich nicht beurteilen. Aber sicherlich erreicht man mit den angedachten Reformvorschlägen keine bessere Studierfähigkeit und senkt auch die Drop-out-Quoten nicht. Denn würden die Fächer Mathematik und je nach Landesteil die Erstsprachen Französisch, Deutsch oder Italienisch deutlich schwerer gewichtet, ginge das logischerweise von Schülerseite mit einer gewissen Vernachlässigung derjenigen Fächer einher, auf die man sich aus eigenem Antrieb konzentrieren könnte und in denen man später auch an der Universität reüssieren könnte.

«Sagen wir nicht Revolution. Aber revolutionäre Tendenzen.»

Was würde es denn jetzt für Sie ganz persönlich heissen, wenn Sie in Mathematik gleich gut sein müssten wie in anderen Fächern?
Das wäre nicht gut. Ich habe mich bei der Profilwahl für die musische Richtung entschieden, weil ich dachte, dass ich Musiker werden und auch an der Zürcher Hochschule der Künste studieren würde. Aber mittlerweile habe ich Gefallen an Wirtschaft und Recht gefunden und hänge mich dort voll rein, obwohl ich natürlich in den musischen Fächern auch gut sein muss. Müsste ich nun in Mathematik und Deutsch ebenfalls noch vergleichbare Leistungen erbringen, dann müsste ich Wirtschaft und Recht vernachlässigen und wäre auf ein Studium in diesem Bereich entsprechend schlechter vorbereitet.

Sie vertreten die Schüler von 20 Zürcher Kantonsschulen, die Stimme ihrer Organisation zusammen mit derjenigen der Dachorganisation der gesamtschweizerischen Schülerorganisationen hat also Gewicht.
Das ist richtig.

Was tun Sie, wenn die EDK und das Departement Schneider-Ammann den Schülern die Teilnahme an den entsprechenden Arbeitsgruppen zur Maturharmonisierung verweigern?
Das wäre natürlich nicht gut, die Schüler sind Hauptbetroffene solcher Reformen und ein Mitspracherecht zu erhalten, ist da sicher nicht zu viel verlangt. Und wir sind viele. Eigentlich können die Erziehungsdirektoren und das Departement Schneider-Ammann uns das Mitspracherecht nicht verweigern, schon gar nicht auf Dauer. Das ist sonst wie im Feudalismus, wo die Patrizier die Bürger und die Bauern auch nicht ewig unter der Knute halten konnten.

Ah! So gehört es sich für gute Gymnasiastinnen und Gymnasiasten. Revolution!
Sagen wir nicht Revolution. Aber revolutionäre Tendenzen.

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75 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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who cares?
27.04.2016 11:22registriert November 2014
Na na, wenn er etwas mit Wirtschaft studieren will, sollte er die Mathematik nicht zu sehr vernachlässigen ;)

Aber grundsätzlich hat er recht. Nicht jeder Studiengang verlangt weitreichende Mathekenntnisse und einseitig begabte sollten auch eine Chance haben.
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bibaboo
27.04.2016 13:56registriert Juli 2015
Meiner Meinung nach hat dieser junge Herr etwas entscheidendes nicht verstanden. Sinn des Gymnasiums ist es nicht, eine fachspezifische Vorbereitung für ein bestimmtes Studium zu erhalten. Vielmehr soll es dazu dienen, den jungen Leuten kritisches Denken anzueignen und ihnen ein gewisses Mass an Allgemeinbildung auf den Weg zu geben.
Oder wie es mein ehemaliger Rektor zu sagen pflegte: Die Gymnasiastin soll nicht ausgebildet, sondern gebildet werden.
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Nasi
27.04.2016 11:24registriert April 2015
Ich stimme zu, dass man nicht in allen Fächern gut sein kann. Und die Diskussion an sich finde ich eh ein Witz. Vielleicht sollte man eher mal damit anfangen, Schweiz weit die gleichen Bedingungen für das Gymansium zu schaffen und das Niveau überall ähnlich zu halten.

Als kleines Beispiel: In Zürich muss man immer eine Aufnahmeprüfung machen, währenddessen man in Basel nur einen guten Notenschnitt haben muss (was wesentlich einfacher ist in meinen Augen).

Ausserdem ist an gewissen Fachhochschulen das Niveau auch etwa so hoch hoch, dass sogar ein Stein abschliessen könnte.
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