Marcel Riesen-Kupper leitet die Oberjugendanwaltschaft des Kantons Zürich. In seinem Beruf ist er täglich mit Jugendkriminalität konfrontiert. Doch ein Vorfall der jüngsten Zeit hat sogar ihn schockiert.
Herr Riesen-Kupper, in Baden, Zürich und Genf wurden kürzlich junge Frauen von Gruppen junger Männer verprügelt, nachts auf öffentlichen Plätzen. Haben Sie eine Erklärung für derartige Vorfälle?
Marcel Riesen-Kupper: In den vergangenen zwanzig Jahren hat sich das Freizeitverhalten junger Frauen verändert. Sie wurden selbstbewusster und gehen häufiger in den Ausgang. Es hat eine Angleichung des Freizeitverhaltens von Frauen und Männern stattgefunden. Wenn sich mehr Frauen spät nachts im öffentlichen Raum bewegen, steigt das Risiko, dass sie wie junge Männer Opfer von Gewalt werden.
Haben junge Männer ihre Hemmungen, Frauen zu schlagen, abgebaut?
Es kann sein, dass Männer, gerade wenn Alkohol im Spiel und die Stimmung aggressiv ist, heute weniger Hemmungen haben, Gewalt auch gegen Frauen anzuwenden.
Dabei haben wir geglaubt, die Jugend sei braver geworden und verbringe mehr Zeit vor Bildschirmen als an Partys.
Das Freizeitverhalten unterliegt wechselnden Trends. Tatsächlich hatten wir eine Phase, in der Jugendliche weniger im öffentlichen Raum unterwegs waren und die Abende mehr zu Hause verbrachten. Neue Kommunikationsmittel und Transportmöglichkeiten wie Nachtbusse und -züge haben das Ausgangsverhalten verändert. Die Grenze zwischen Tag und Nacht verwischt zunehmend. Das ist gerade für meine Generation augenfällig: Wenn ich in Zürich unterwegs bin und abends um 11 Uhr nach Hause fahre, kommen mir Scharen von jungen Menschen entgegen, die erst jetzt in den Ausgang gehen.
Nehmen wir an, Sie sind spätabends unterwegs nach Hause und sehen, wie eine Frau von jungen Männern verprügelt wird. Schreiten Sie ein?
Man sollte nicht unüberlegt handeln, sondern sich zuerst ein Bild der Situation verschaffen, um möglichst gefahrlos eingreifen zu können. Wichtig ist, sofort die Polizei zu informieren und dann zu versuchen, andere Passanten anzusprechen, um gemeinsam einzugreifen.
In Zürich wurden kürzlich sogar Sanitäter attackiert. Leben Helfer gefährlicher als früher?
Dieser Vorfall hat auch mich persönlich schockiert, obwohl ich in meinem Beruf häufig mit Gewalt konfrontiert bin. Generell stellen wir fest, dass Angriffe auf Beamte, Polizisten oder wie in diesem Fall auf Sanitäter seit mehreren Jahren tendenziell zunehmen.
Wie erklären Sie, dass Jugendliche auf eine Ambulanz losgehen?
Das ist auch für mich nur schwer erklärbar. Es kann sein, dass eine Gruppe von Jugendlichen planlos herumhängt, gemeinsam Alkohol konsumiert. Einer ist vielleicht frustriert, ein anderer gelangweilt. Es ist nachts um zwei Uhr, mit steigendem Alkoholpegel nimmt das Aggressionspotenzial zu. Die Jugendlichen sind auf der Suche nach einem Abenteuer. Plötzlich sehen sie ein Fahrzeug mit Blaulicht vorfahren. Sie müssen es nicht einmal als Feindbild wahrnehmen, sondern einfach als ein Objekt, welches das Gegenteil von Langeweile verspricht. Es entsteht eine Gruppendynamik, man stachelt sich gegenseitig an und agiert schliesslich völlig enthemmt.
Die Jugendkriminalität bewegt sich kurvenförmig. Wo befinden wir uns?
Nach der Jahrtausendwende verzeichneten wir einen stetigen Anstieg der Jugendgewalt. Ab 2006 setzte eine intensive Debatte ein, wie man sie bekämpfen könnte. Die Schulsozialarbeit und die polizeilichen Jugenddienste wurden ausgebaut. Jugendgewalt war politisch und medial omnipräsent. Es entstand ein breiter gesellschaftlicher Konsens, dass man Massnahmen ergreifen muss, auch im Kleinen. Ich als Vater zum Beispiel wurde hellhörig, wenn ich von Gewaltvorfällen im Umfeld meiner Kinder erfuhr. Das gesamtgesellschaftliche Handeln trug wohl zu einer Trendwende im Jahr 2010 bei. Bis 2015 ging die Jugendkriminalität stark zurück, die Jugendgewalt sogar um rund 50 Prozent. Das ist erfreulich. Wir stellen aber fest: In den vergangenen zwei Jahren hat die Jugendgewalt wieder zugenommen.
Woran könnte das liegen?
Eine abschliessende Erklärung gibt es nicht. Ein Aspekt könnte sein, dass die Jugendgewalt in den letzten Jahren aus dem öffentlichen Fokus rückte. Andere Themen traten in den Vordergrund. Jetzt brauchen wir meines Erachtens eine Erneuerung des Konsenses, dass jegliche Form von Gewalt nicht tolerierbar ist. Wir müssen wieder wachsamer werden.
Ein Lösungsansatz sind Selbstverteidigungskurse an Schulen. Was halten Sie davon?
Grundsätzlich finde ich Selbstverteidigungskurse eine gute Idee, da sie zu einem Gewinn an Sicherheit und Selbstvertrauen führen können. Es ist wichtig, dass Jugendliche – und insbesondere auch junge Frauen – lernen, Konfliktsituationen besser einzuschätzen, sich einige Verhaltensregeln verinnerlichen und im Notfall auch wissen, wie man einen gezielten Schlag am richtigen Ort platziert.
Was raten Sie Eltern?
Es braucht eine neue Welle der Sensibilisierung. Schön wäre, wenn Eltern Zeitungsartikel wie diesen am Familientisch thematisieren und mit ihren Jugendlichen über Gewalt sprechen.
(aargauerzeitung.ch)