Herr Rothenbühler, bei den Abstimmungen über die beiden Agrar-Initiativen zeigte sich am Sonntag ein deutlicher Röstigraben. Wie kam er zustande?
Peter Rothenbühler: Das ist eine schwierige Frage. Eine einfache Erklärung für das Ergebnis gibt es nicht. Dass die Romands etwa bei der Fair-Food-Initiative so deutlich Ja gesagt haben, ist eigentlich paradox.
Weshalb?
Bei den Deutschschweizern erwachte das Bewusstsein dafür, was bei ihnen auf den Teller kommt und wie es hergestellt wird, viel früher. Vegetarische Restaurants und Bio-Läden sind viel verbreiteter als in der Romandie. In den Regalen findet man gesundes Bio-Roggenbrot. Das Welschland ist immer noch eine Weissbrot-Gegend. Die Romandie hat Nachholbedarf, der Bio-Trend kam hier mit Verspätung an. Jetzt ist auch in der Westschweiz langsam ein Bewusstsein für gesunde und nachhaltige Lebensmittel erwacht.
Allgemein betrachtet: Gibt es kulturelle Unterschiede zwischen Deutschschweizern und Romands beim Verhältnis zum Essen?
Ich denke schon. Lassen Sie mich mit einer spezifischen Beobachtung anfangen: Während man in der Deutschschweiz Eglifilets mit Salzkartoffeln serviert, bekommt man in der Westschweiz im Restaurant meistens Pommes frites zu den filets de perche. In der Deutschschweiz würde man eher nicht zwei frittierte Speisen auf dem gleichen Teller servieren. Dennoch denken viele Deutschschweizer, in der Romandie esse man bereits wie Gott in Frankreich.
Das ist nicht so?
Nein. Mit Ausnahme der Spitzengastronomie können Sie in Zürich oder Basel deutlich besser auswärts essen als in Lausanne. Insbesondere, wenn Sie Vegetarier sind. Aber das ändert sich langsam, wenn auch nicht ohne Nebengeräusche.
Worauf spielen Sie an?
Als 2016 bekannt wurde, dass das geschichtsträchtige Bahnhofbuffet in Lausanne zu einer Tibits-Filiale des Zürcher Vegi-Imperiums Hiltl umgewandelt werden soll, war der Aufschrei riesig. Kein saucisson vaudois mehr im Buffet de la gare? Undenkbar! Die Zeitungen und Leserbriefschreiber überboten sich mit Empörung. Bald wird das Tibits seine Pforten öffnen – und wird sicher ein Erfolg werden. Denn es gibt hier ein grosses Bedürfnis nach vegetarischem Essen.
Tibits-Filialen laufen auch in Deutschschweizer Städten wie verrückt. Das ist keine Erklärung für das welsche Ja zur Fair-Food- und Ernährungssouveränitäts-Initiative.
Ich denke, die Zustimmung in der Romandie entstand aus einer Kombination heraus. Einerseits aus dieser erwachenden Bewegung für gesünderes, nachhaltig produziertes Essen, andererseits aus dem grösseren Vertrauen, das die Romands staatlichen Regulierungen entgegenbringen. Während in der Deutschschweiz die Mehrheit fand, man müsse bei den Lebensmitteln den Konsumenten die Wahlfreiheit lassen, wollten die Romands hier die Rolle des Staates stärken. Diese unterschiedlichen Präferenzen konnte man auch bei anderen Abstimmungen beobachten. Aber auch zur individuellen Freiheit haben die Romands ein paradoxes Verhältnis.
Inwiefern?
Wenn der bei der sozialen Wohlfahrt sehr geschätzte Staat in anderen Bereichen neue Vorschriften macht, reagieren die Romands erst mal mit Ablehnung. Die Einführung der Gurtenpflicht für Autofahrer, die Aufnahmepflicht für Hundekot oder die Gebühren auf Abfallsäcke sorgten in der Romandie zunächst für Kopfschütteln. Doch auch hier vollzog man irgendwann die Entwicklungen nach, welche in der Deutschschweiz schon lange abgeschlossen waren.
Unterschiede gibt es auch bei der Rolle der Bauern. Es war die welsche Kleinbauernvereinigung Uniterre, welche die Initiative für Ernährungssouveränität lancierte. Und der Westschweizer Bauernverband sagte im Unterschied zum Schweizer Bauernverband Ja zur Fair-Food-Initiative. Sind die welschen Bauern links und grün?
Nein, so kann man das nicht sagen. Aber in der Romandie haben die Anliegen der Landwirte, insbesondere der Weinbauern, grossen Rückhalt. Und diese unterstützten die Initiativen, weil sie sich dadurch mehr Abschottung für ihre Produkte von der internationalen Konkurrenz erhofften. Die Bauern der Romandie sind nicht alle grün, aber sie verstehen sich gut mit der Grünen Partei.
Wie kommt das?
In der Romandie gibt es eine stärkere Verbindung zwischen grünen und bäuerlichen Anliegen – organisatorisch, politisch und persönlich. Das hat auch damit zu tun, dass hier die traditionelle Bauernpartei, die SVP, gemässigter auftritt und gut mit den Grünen auskommt, etwa im Waadtland.
Schauen wir zum Ende dieses Interviews noch tief ins Glas. Wie steht es um die gemäss dem Klischee grosse Trinkfreudigkeit der Romands und die Nüchternheit der Deutschschweizer?
Das Klischee ist überholt. Ein Glas Wein zum Mittagessen und danach zurück ins Büro, das war in der Westschweiz vor 20 oder 30 Jahren noch gang und gäbe. Heute sieht man das kaum noch. Aber der Wein als wichtiger Teil der Kultur ist weiterhin von überragender Bedeutung – auch weil die Weinberge viele Landschaften der Romandie prägen.
Wie unterscheiden sich Geschäftsessen in Lausanne und in Zürich, wenn es um den Wein geht?
Wenn man sich im feierlichen Rahmen geschäftlich trifft, ist in Lausanne allen klar, dass man Wein bestellt – und zwar guten Wein aus der Region. In Zürich ist das weniger selbstverständlich. Und wenn man dort Wein trinkt, dann kommt der eher aus Frankreich, Chile oder Argentinien als von einem Weinberg am Zürichsee.