Die SBB geht aktiv auf Schweizer Schulen und Universitäten zu. Ziel: Vorlesungs- und Unterrichtszeiten sollen so verschoben werden, dass Studenten nicht zu den Hauptverkehrszeiten im Zug sitzen. Bislang gibt es zwei solche Deals: Mit der Fachhochschule Nordwestschweiz in Muttenz und der Hochschule in Luzern in Rotkreuz. Mit weiteren Bildungsinstituten führt die SBB Gespräche. Mobilitätsforscher Thomas Sauter-Servaes von der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften äussert sich im Interview zur SBB-Strategie.
Thomas Sauter-Servaes, die Fachhochschule Nordwestschweiz verschiebt die Vorlesungszeiten nach hinten, um die Züge in Hauptverkehrzeiten zu entlasten. Sind ein paar Studenten nicht nur ein Tropfen auf den heissen Stein?
Thomas Sauter-Servaes: Ein paar Studenten vielleicht, aber langfristig könnte dieses Konzept auch im grösseren Rahmen funktionieren. Wir haben in der Verkehrsinfrastruktur kein Kapazitätsproblem – wir haben ein Auslastungs-Problem. Es geht darum, jetzt nicht noch mehr in Beton investieren zu müssen und stattdessen die vorhandene Infrastruktur achtsam zu nützen.
Also sollten sich auch Arbeitgeber dem ÖV anpassen.
Alles, was zu einer Flexibilisierung führt, ist ein guter Weg, um zu verhindern, dass wir alle wie die Lemminge zur gleichen Zeit unterwegs sind. Wir müssen anfangen, die Infrastruktur dann zu nutzen, wenn noch Kapazitäten vorhanden sind. Letztendlich wird man aber an Mobility Pricing nicht vorbei kommen. Wenn künftig Zugfahren um 8 Uhr besonders teuer ist, werde ich mir gut überlegen, ob ich doch lieber später fahre.
Und wenn mein Arbeitgeber will, dass ich um 8.30 Uhr im Büro bin?
Dann werde ich ihm sagen, du musst mir mehr Lohn zahlen. Wenn er nicht dazu bereit ist, werde ich mir überlegen, nicht mehr für ihn zu arbeiten. Oder ich ziehe in die Nähe meines Arbeitsplatzes. Wir müssen auch sehen, dass wir immer mehr in die Richtung einer Dienstleistungsgesellschaft gehen und damit mehr Flexibilität haben. Beispiel Home-Office.
Ist die Lösung letztendlich, dass es dem Bürger im Portemonnaie weh tun muss?
Ich sehe derzeit keinen anderen Weg. Anders ist es im Strassenverkehr. Hier könnte man sich überlegen, den Pannenstreifen in der Hauptverkehrszeit freizugeben. Aber nur für Fahrzeuge, in denen mindestens drei Personen drin sitzen. Damit gebe es hier noch die Möglichkeit, wirklich auf Zuckerbrot statt die Peitsche zu setzen. Aber wenn man alles in allem sieht, wird man in Zukunft vorwiegend die Peitsche einsetzen müssen. Und das werden Politiker ungern tun.
Wagen Sie eine Prognose – bis wann werden wir ein Mobility-Pricing in der Schweiz haben?
Da habe ich keine Prognose. Ich sage nur, dass wir eines brauchen werden. Heute ist Pendeln zur Hauptverkehrszeit zu billig.
Bedeutet dies letztendlich auch das Ende des Generalabonnement?
Flatrate-Tarife sind kein sinnvolles Angebot, einfach weil man sie nicht steuern kann. In der Luftfahrt sind wir schon lange davon weg, dass alle den gleichen Preis zahlen, die von A nach B wollen. Zeiten, in denen die Nachfrage gross ist, sind teurer als Schwachlastzeiten. Auch im Schienenverkehr wird man nicht daran vorbei kommen, um die Züge in den Hauptverkehrszeiten zu entlasten.
Von verärgerten Pendler hört man vielfach, die SBB soll einfach mehr Wagen anhängen.
Das funktioniert nur bedingt. Ab einer gewissen Länge des Zuges muss ich auch den Bahnhofperron verlängern. Auch dreistöckige Züge kann ich nicht bauen. Dann bleibt noch die Passagiere enger zu setzen. Doch dann heisst es schnell: Hey, wir sind hier nicht bei Ryanair.
Und Steh- anstatt Sitzplätze?
Züge fahren nicht nur zu den Hauptverkehrszeiten. Wenn sich dann 20 Leute um 14 Uhr stehend einen Waggon teilen, hätte man auch Liegestühle einbauen können. Man muss Fahrzeuge bauen, die letztendlich alle Zeiten abdecken.
Ende September gab der Bundesrat bekannt, dass er auf der Strecke Zürich-Bern den Viertelstundentakt einführen will. Sind mehr Züge die Lösung?
Mit Hilfe der Digitalisierung ist es tatsächlich möglich, die Zugfolgezeiten noch enger zu staffeln. SBB-Chef Andreas Meyer spricht von einer möglichen Steigerung von 30 Prozent. Doch: Mit zunehmender Effizienz wird das System anfälliger. Wenn dann etwas schief geht, gerät alles aus den Fugen.
Ist die SBB das Opfer ihres eigenen Erfolges?
Die SBB hat ihren Auftrag voll erfüllt und ein attraktives Angebot geschaffen, das viele Kunden anzieht. Jetzt ist die Frage, wie man damit umgeht. Baut man noch mehr Gleise und grössere Züge oder beginnen wir endlich uns zu überlegen, wie wir die bestehende Infrastruktur besser nutzen können. Und da ist die SBB auf dem richtigen Weg.