Herr Hermann, wenn man Ihre Studie
liest, dann wird einem ein bisschen mulmig: Angst vor der Digitalisierung, Furcht vor
der allgegenwärtigen Lebensvermessung, permanenter Druck im
Alltag ... Die Befragten wirken ziemlich pessimistisch.
Michael Hermann: Der Eindruck
ist absolut richtig. Wenn man sich die Welt so ausmalt, dass alles
gemessen und alles ausgewertet werden kann, dann endet man beim
gläsernen Bürger. Diese Vorstellung behagt den Leuten gar nicht,
das wird in unserer Studie deutlich.
Und doch sind viele der Befragten
offen für die Idee, noch mehr Bereiche ihres Lebens auszuwerten ...
Ja, interessanterweise ist man offener
für die Idee der Vermessung und Auswertung von Daten, wenn man
selber aktiv ist. Es sind eben zwei unterschiedliche Ebenen: Theoretisch stehen viele der Idee der permanenten Vermessung des
eigenen Lebens sehr skeptisch gegenüber, sobald man es aber selber
anwendet, scheint diese Skepsis bei vielen zu verschwinden.
Wie erklären Sie dieses Paradox?
Es ist wie beim Frosch im warmen
Wasser. Der Frosch stört sich nicht daran, dass das Wasser Schritt
für Schritt ein bisschen wärmer wird. Im Gegenteil, er findet es
wohlig warm. Wenn er aber wüsste, dass das Wasser irgendwann kochend
heiss ist, dann wäre er schon lange aus dem Teich gehüpft.
Der Mensch als Frosch?
Schauen Sie, im Alltag kommt vieles
Schritt für Schritt. Bei Dingen, die man nicht braucht und die man
nicht verwendet, ist man skeptisch. Sobald man es im Alltag aber
braucht, wird der Nutzen höher gewichtet als die Ängste. Man macht
mit, sagt sich, dass die kleinen Schritte die Machtverhältnisse ja
nicht auf den Kopf stellen. Es ist ein schleichendes Abgleiten in
eine neue Welt. Wenn man aber einen Schritt zurück geht und
reflektiert, dann hat man plötzlich die dystopische Vorstellung
einer Welt, die allumfassend kontrolliert wird. Eigentlich nimmt man
an etwas teil, von dem man das Gefühl hat, es führe an einen
schlechteren Ort.
Interessanterweise glauben auch
diejenigen Befragten, die selber regelmässig eigene Daten
aufzeichnen und auswerten, dass sie damit eigentlich nur den grossen
Konzernen wie Facebook, Google & Co. in die Hände spielen.
Ja, der Gedanke des Wissensvorsprungs
durch die Auswertung der eigenen Gesundheitsdaten spielt offenbar nur
eine geringe Rolle. Selbst die, die mehr Daten aufzeichnen, haben das
Gefühl, dass sie an Einfluss verlieren. Es ist dieses Bild, dass die
Macht der wenigen Grossen erhöht wird – the survival of the fittest.
Gleichzeitig beklagen sich die
Befragten über den Stress und den Druck, den die Digitalisierung mit
sich bringe.
Das ist
tatsächlich eine Premiere in der Geschichte: Die technische
Entwicklung war bislang immer mit Komfort und einem Lebensversprechen
verbunden – die Waschmaschine, der Staubsauger, im Arbeitsbereich
der Bagger – jetzt beklagen sich die gleichen Leute, die
Tracking-Apps nutzen, über Stress und Leistungsdruck. Wir haben
also die erste Art technischer Revolution, die mehr Stress bedeutet
als Komfort. Auch das ist ein Grund dafür, warum die Befragten so
pessimistisch sind.
Woran liegt das?
Alles was man
aufzeichnet, kann verglichen werden, und dieser permanente Vergleich
wiederum kann unglaublich belastend sein.
Apropos Vergleich: Das
Heilsversprechen des Individualismus scheint die Leute nicht mehr so
richtig zu überzeugen.
Ja, die Angst vor einem Verlust an
Individualität ist bei den Befragten verbreitet. Das ist tatsächlich
erstaunlich: Trotz personalisierter Werbung und zugeschnittener
Produkte fürchtet man sich offenbar vor einer zunehmenden
Uniformität.
Auch das Sammeln persönlicher Daten
durch Dritte wird skeptisch betrachtet. Dem Satz «Da ich nichts zu
verbergen habe, brauche ich auch nichts zu befürchten» stimmten
Linke häufiger zu als Rechte. Sind das Spätfolgen des
Fichenskandals?
Ich glaube eher, es liegt daran, dass
aus linker Sicht der Schutz vor abweichenden Meinungen, der
Minderheitenschutz und die Angst, dass man aufgrund von
Persönlichkeitsmeinungen diskriminiert werden könnte, viel mehr im
Bewusstsein ist als bei den Rechten. Auf der rechten Seite sind die
Konformitätsvorstellungen viel dominanter.
Die Studie wurde von der Stiftung der
Sanitas finanziert, einer der grössten Schweizer Krankenkassen. Was
die Krankenkasse mit dieser Studie eigentlich wissen möchte, ist, ob
die Solidarität im Gesundheitssystem noch immer sakrosankt ist.
Ja, das Prinzip
der Solidarität ist in der Gesellschaft nach wie vor sehr verankert.
Will man das aushebeln, wird man auf starken Widerstand stossen. Das
heisst auch, dass politische Vorstösse in diese Richtung aktuell
nicht erfolgversprechend wären.
Sie sagen «aktuell». Der
Gebrauch von Fitness-Tracker & Co. könnten diese scheinbare
Gewissheit aber umstossen.
Das
Versicherungsprinzip funktioniert so, dass man nicht im vornherein
weiss, wen es trifft und wen nicht: Man schliesst sich zusammen, um
die Risiken zu vergesellschaften. Der gesellschaftliche Kitt besteht
unter anderem auch aufgrund dieses sogenannten «Schleiers des
Nichtwissens» – niemand weiss im vornherein, wen einst welche
Krankheit oder welcher Unfall ereilt. Deshalb ist man bereit, in
diesen Topf einzuzahlen. Die Tracking-Apps bewirken nun, dass dieser
Schleier immer mehr gelüftet wird – individualisierte Prämien
aufgrund des Vorwissens sind also denkbar. Es könnte irgendwann
soweit kommen, dass es gar keine Versicherung mehr gibt.
Was hat Sie an den
Studienergebnissen am meisten überrascht?
Das Gefühl, man
könne im Netz alles gratis haben, ohne auf irgendeine Art dafür
zu bezahlen, sei es mit Geld oder mit Daten. Gratis-Emails,
Suchmaschinen, WhatsApp – dass irgendjemand hinter diesen Produkten
ein Geschäftsmodell verfolgt, scheint in den Köpfen der Leute nicht
zu existieren. Das überrascht mich, schliesslich hat sich überall
sonst in der Geschichte des Kapitalismus das Bewusstsein für die
Marktwirtschaft bis in die letzte Pore durchgesetzt.
Sind wir einfach zu naiv?
Ich glaube, es hat
mit der Entstehungsgeschichte des Netzes zu tun, man hat eine ganze
Generation so sozialisiert, als ob das Internet ein einziger grosser
Gratis-Spielplatz wäre. Darunter leiden jetzt dutzende Branchen,
nicht zuletzt die Medien.
Wir haben das Internet zu Unrecht
als Hort der Freiheit hochgejubelt?
Ja. Die Idee, dass ein freies Internet
automatisch zu Gleichheit und Gleichberechtigung führt, war von
Anfang an illusorisch. Diese utopische Vorstellung ist jetzt
endgültig weg. Dafür ist jetzt die Vorstellung stark ausgeprägt,
dass das Netz dominiert ist von wenigen grossen Konzernen in einer
historisch einmaligen Machtballung.