Herr Knecht, was geht im Gehirn eines Hooligans vor?
Thomas Knecht: Die meisten Hooligans sind junge Männer. Es ist eine Tatsache, dass die Aggressionsbereitschaft am Ende des Teenager-Alters am grössten ist. Denn mit ungefähr 18 Jahren erreicht der Testosteronspiegel ein Maximum, während das Frontalhirn noch sehr unreif ist. Dies äussert sich in einer gesteigerten Angriffslust. Die Zugehörigkeit zu einer gewaltbereiten Fangruppierung kann ein Anlass sein, diesen Impulsen nachzugeben.
Früher prügelten sich rivalisierende Fangruppen auf entlegenen Wiesen. Heute passen Ultras unbeteiligte Matchbesucher ab, bedrohen Journalistinnen, liefern sich Massenschlägereien am helllichten Tag. Am Wochenende gingen mutmassliche FCZ-Anhänger während eines Rettungseinsatzes gar gezielt auf Polizisten und Sanitäter los. Was ist passiert?
Die Möglichkeiten, Aggressionen auszuleben, sind in unserer Gesellschaft immer spärlicher gesät. Gleichzeitig werden die Reizquellen zahlreicher: Der Leistungsstress am Arbeitsplatz nimmt zu, genauso wie der Dichtestress in einer überregulierten Gesellschaft. Diese externen Faktoren können dazu führen, dass sich das Aggressionspotenzial in bestimmten Konstellationen heftig entlädt. Gleichzeitig hat in der Hooligan-Szene ein kultureller Wandel stattgefunden: Die Regeln haben sich aufgeweicht, die autoritätsgläubige Grundhaltung ist verloren gegangen.
Und darum die Angriffe auf die Polizisten?
Für den Ur-Hooligan war der Polizist so etwas wie ein Schiedsrichter. Man rechnete mit ihm, aber nicht als Gegner, sondern als Autorität, die die eigenen Pläne durchkreuzte. Man wich der Polizei nach Möglichkeit aus. Heute ist das Ausweichen aufgrund der höheren Regulierungsdichte schwieriger geworden. Die neue Generation von Hooligans schaltet darum in den Angriffsmodus. Je nach staatspolitischer Gesinnung der einzelnen Personen spielen noch andere Motive mit. Teilweise haben wir es mit Linksradikalen zu tun, die geistig mit dem autonomen Block verwandt sind und die Polizisten als Klassenfeinde sehen.
Die Angriffe von Samstagnacht waren allerdings nicht das Werk einzelner Hooligans: Plötzlich solidarisierten sich hunderte Personen mit den Angreifern und bewarfen die Einsatzkräfte ebenfalls mit Flaschen und Steinen. Die Stadtpolizei spricht von einem rund 300-köpfigen «Mob». Wie entsteht eine solche Dynamik?
Wir haben es hier mit der sogenannten Affekt-Ansteckung zu tun. Schon auf der Säuglings-Station ist es so: Wenn einer losplärrt, plärren alle los. Nun muss man sich vor Augen halten, dass in der Samstagnacht nicht unbedingt Rentner unterwegs sind, sondern eben gerade die Jahrgänge, die hormonell gut gesättigt sind. Manche mögen frustriert sein über Misserfolge im nächtlichen Flirtwettbewerb. Kommen dann Alkohol und Aktivdrogen wie Amphetamine dazu, ist das ein ziemlich explosiver Mix.
Und dann wird der Durchschnitts-Lehrling plötzlich zum Schläger?
Unter Umständen, ja. Wir sprechen hier vom Phänomen der Verantwortungsdiffusion. Wenn alle dreinschlagen, fühlt sich keiner mehr verantwortlich. Man ist ja nur ein bisschen dabeigewesen. Dazu kommt der Profilierungsdrang: In der Gruppe will jeder der Verwegenste und der Stärkste sein. Dadurch nimmt die Intensität der Gewalttaten zu.
Wie unterscheiden sich Hooligans von anderen radikalen Gruppierungen, zum Beispiel von Rechtsextremen?
Der Hooligan hat ein sehr grobschlächtiges Feindbild. Es reicht, wenn jemand das Trikot der gegnerischen Mannschaft trägt – und schon passt er ins Schema. Dies erklärt auch die Übergriffe auf normale Matchbesucher, die keiner radikalen Fangruppierung angehören. Beruft sich eine Gruppe hingegen auf eine politisch-weltanschauliche Ideologie, dann ist das Feindbild genauer konturiert. Die Gemeinsamkeit ist die Suche nach Halt und Identität. Hooligans versuchen wie andere radikale Gruppierungen auch, die Anonymität der Gesellschaft zu überwinden und zur «Ur-Horde» zurückzukehren.
«Ur-Horde»?
Der Mensch ist für eine Gruppengrösse von ungefähr 150 Individuen konzipiert. Bis zu dieser Grösse hält die persönliche Vertrautheit Gruppen zusammen. Bei grösseren Dimensionen braucht es äusseren Zwang, um die anonyme Masse zusammenzuhalten. So gesehen, sind die urbanen Gefielde nicht besonders artgerecht für Menschen. Trotzdem strömt alles in die Städte, weil hier die Jobs sind und – nicht zu unterschätzen – eine grössere Auswahl an Geschlechtspartnern herrscht. Das Resultat ist ein höherer Aggressionsüberschuss.
Gibt es aus forensischer Sicht Hinweise darauf, wie dem Hooligan-Problem beizukommen ist?
Früher hiess es, man müsse die Rädelsführer isolieren und aus dem Verkehr ziehen. Heute organisieren sich die Bewegungen allerdings so Flashmob-artig, dass sich kaum mehr Schlüsselfiguren manifestieren. Man kann die Täter im Einzelfall aus dem kriminologenen Milieu herausnehmen und versuchen, sie einer normalen Sozialisation zuzuführen. Doch Zusammenrottungen und Gewaltexplosionen verhindert man damit nicht.
Müssten sich die Klubs stärker von Gewalttätern distanzieren?
Die gewaltbereiten Gruppierungen führen ein Eigenleben und lassen sich auch von den eigenen Klubfunktionären nicht herumdirigieren. Manche suchen die Konfrontation in dem Fall sogar erst recht.
Die Zürcher Sicherheitsvorsteherin Karin Rykart (Grüne) reagiert auf die Krawallnacht, indem sie alle Polizisten mit Bodycams ausrüstet. Ein taugliches Mittel?
Tragen die Polizisten Kameras auf sich, verhüllen sich die Angreifer einfach besser. Ich gehe nicht davon aus, dass dadurch Angriffe im grossen Stil verhindert werden können. Hinterher, bei der Aufarbeitung von Straftaten, können die Bilddokumente aber natürlich klärend wirken.
Also sind Politik, Polizei und Klubs die Hände gebunden? Prävention, Repression – nützt alles nichts?
Repression funktioniert nur punktuell. Auf der präventiven Schiene kann man natürlich versuchen, Jugendlichen unschädlichere Ventile zur Verfügung zu stellen, durch die sie ihre Aggressionen abbauen können. Aber es lassen sich nun einmal nicht alle jungen Männer in eine geordnete Vereinstätigkeit einbinden. Wir müssen der Tatsache ins Auge sehen: Griffige Sofortmassnahmen existieren nicht. Wir haben es hier mit einem komplexen gesellschaftlichen Problem zu tun.