Schweiz
Islamischer Staat (IS)

Gerichtsprozess: Geschwister aus Winterthur reisten nach Syrien

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Von einem Tag auf den anderen tauchte Esra* verschleiert in der Schule auf. symbolBild: EPA/EPA

Dschihad-Geschwister aus Winterthur schweigen vor Gericht – 8 Fragen zum Prozessauftakt

An Weihnachten 2014 reisten zwei Teenager aus Winterthur nach Syrien und sollen sich dort dem «IS» angeschlossen haben. Ein Jahr später kehrten sie unvermittelt in die Schweiz zurück. Am Montag stehen die Jugendlichen vor Gericht.
03.12.2018, 06:2103.12.2018, 12:04
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Wie traten die Geschwister vor Gericht auf?

Mittlerweile sehen Vedad* und Esra* nicht mehr nach IS-Reisenden aus: Der heute 19-Jährige mit kurz geschnittenem Vollbart hat seine Haare für den Gerichtsprozess zu einem kleinen Knoten zusammengebunden. Seine 18 Jahre alte Schwester trägt Rossschwanz, Perlenohrstecker, enge Jeans und ein modisches Jäckchen.

Am Montag machen die Geschwister vor dem Jugendgericht Winterthur von ihrem Recht auf Aussageverweigerung Gebrauch. Die junge Frau hält dieses Schweigen konsequent durch. Ihr Bruder durchbricht es hin und wieder, um das Gericht über den Islam sowie die «weltweite Unterdrückung» und den «Terror gegen Muslime» zu belehren.

Wann verschwanden die Geschwister?

Kurz vor Weihnachten 2014 treffen bei der Kantonspolizei Zürich zwei Vermisstmeldungen ein: Der damals 16-jährige Vedad und seine 15-jährige Schwester Esra aus Winterthur sind spurlos verschwunden. Schnell bestätigen sich die Hinweise, dass die zwei Jugendlichen auf eigene Faust in die Türkei geflogen sind, um von dort aus nach Syrien einzureisen. Zuletzt sollen die Handys der Geschwister in der türkischen Grenzstadt Adana geortet worden sein. Der Ort gilt zu diesem Zeitpunkt als bekannte Route, über welche westliche Kämpfer nach Syrien ziehen, um sich dem «IS» anzuschliessen. 

Wie haben sich die Jugendlichen radikalisiert?

Die zwei Teenies mit kosovarischen Wurzeln leben vor ihrem Verschwinden mit ihren Eltern und Geschwistern im Stadtteil Töss in Winterthur. Das Mädchen besucht die Sekundarschule, der Junge absolviert eine KV-Lehre. Er besucht regelmässig die An'Nur-Moschee und wechselt später nach Embrach zur El-Furkan-Moschee. Gegenüber den Medien sagt Atef Sahnoun, der damalige Präsident der An'Nur-Moschee, dass sich V. in Embrach radikalisiert habe. Die Moschee sei bekannt dafür, dass dort der radikale Islam gelehrt werde.

Zu dieser Zeit ranken sich bereits allerlei Gerüchte um die zwei Moscheen im Tösstal. Mehrere Besucher hätten sich hier radikalisiert und seien nach Syrien in den Dschihad gezogen, heisst es in Medienberichten. Der Nachrichtendienst zählt 62 bestätigte Dschihad-Reisen zwischen 2001 und 2014, darunter auch Minderjährige. Die Buben schliessen sich dem «IS» als Gotteskrieger an, die Mädchen träumen von einer Heirat mit einem «IS»-Krieger.

Razzia in Winterthurer Moschee

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Razzia in Winterthurer Moschee
Am frühen Mittwochmorgen (2. November 2016) hat die Kantonspolizei Zürich zusammen mit der Stadtpolizei Winterthur die An'Nur-Moschee in Winterthur durchsucht.
quelle: keystone / walter bieri
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Gemäss «Tages-Anzeiger» reist Vedad im Sommer gemeinsam mit zwei anderen Jugendlichen aus Winterthur nach Mekka. Danach verändert er sich. Er rasiert sich eine Halbglatze, ist angetan vom «IS» und dem Kampf für den «wahren Gott», besucht das Kampfsportcenter von Valdet Gashi, dem inzwischen verstorbenen «IS»-Kämpfer. Später bricht der 16-Jährige die Lehre ab. 

Auch die jüngere Schwester Esra verkehrt zu jener Zeit in der Embracher Moschee. Über ihre Radikalisierung ist wenig bekannt. Von einem Tag auf den anderen taucht das Mädchen schwarz verhüllt im Unterricht auf. Die Schulleitung informiert die Eltern, die keine Ahnung von dem Sinneswandel haben. 

Was tat die Familie?

Der Vater der Geschwister Vedad und Esra ist schockiert, als er vom Verschwinden der Jugendlichen hört. Er ist überzeugt, dass seine Kinder in Embrach radikalisiert worden sind. Als klar ist, dass sie sich in der Türkei aufhalten, setzt er sich ins nächste Flugzeug und macht sich auf, die beiden zurückzuholen. In der türkisch-syrischen Grenzstadt Adana hängt er Fotos von den Geschwistern auf. In Hotels, Restaurants, am Zoll. 

Die Bilder des verzweifelten Vaters, der die Fotos seiner Kinder in die Kamera von internationalen Medien hält, gehen um die Welt. Einer türkischen Nachrichtenagentur sagt er: «Der ‹Islamische Staat› hat meine Kinder ausgetrickst.» Ein Freund, der den Vater begleitet, äussert sich später gegenüber dem Blick: «Wir kontaktierten auch Dorfchefs, «IS»-Aussteiger und Geheimdienstler.» Doch von Vedad und Esra fehlt jede Spur. Nach ein paar Tagen muss der Vater die Aktion abblasen und kehrt niedergeschlagen in die Schweiz zurück. 

Was ist über den Aufenthalt in Syrien bekannt?

Rund ein Monat nach ihrem Verschwinden erreichen die Eltern das erste Lebenszeichen ihrer Kinder. In einer WhatsApp-Nachricht schreibt der Sohn dem Vater, ihm und seiner Schwester gehe es gut. So erzählt es ein Freund der Familie dem «Blick». 

Gemäss diesen Erzählungen schreibt der Sohn weiter, er besuche eine Koranschule, gemeinsam mit anderen Auswanderern. Die Schwester lebe in einem Haus mit Frauen aus Deutschland und Österreich. Die Geschwister würden sich regelmässig sehen. Später wurden Gerüchte laut, wonach das Mädchen einen «IS»-Krieger geheiratet habe. Ob das stimmt, ist allerdings nicht klar. 

Wann kamen die Geschwister zurück?

Am 30. Dezember 2015 informierte die Kantonspolizei Zürich, dass zwei Jugendliche aus Winterthur am Flughafen Zürich verhaftet und der Jugendanwaltschaft Winterthur übergeben wurden. Schnell ist klar: Bei den Jugendlichen handelt es sich um das Geschwisterpaar Vedad und Esra. Offenbar sind sie von Istanbul zurück in die Schweiz eingereist. Als sie das Flugzeug verliessen, klickten die Handschellen. 

Was geschah mit den Teenagern nach ihrer Rückkehr?

Für die Behörden ist der Umgang mit den jugendlichen Dschihad-Rückkehrern Neuland. Was haben sie in Syrien gemacht? Müssen die Geschwister eingesperrt werden? Warum sind sie aus Syrien zurückgekehrt? Vedad und Esra werden voneinander getrennt untergebracht und unterstehen der Obhut der Jugendanwaltschaft. Diese eröffnet ein Verfahren wegen Unterstützung einer kriminellen Organisation und wegen Widerhandlung gegen das Bundesgesetz über das Verbot der Gruppierungen Islamischer Staat und al-Kaida.

Im Herbst 2017 entscheiden die Behörden, dass keine Unterbringung in einer spezialisierten Institution oder andere Schutzmassnahmen nötig sind. Die Oberjugendanwaltschaft teilt mit, dass die Geschwister nicht mehr in Gewahrsam der Behörden seien. Esra ist inzwischen volljährig geworden, ihr Bruder ist 19 Jahre alt.

Weil bei Esra aufgrund eines psychiatrisch-psychologischen Gutachtens Hinweise auf eine Reifungsproblematik vorliegen, wird eine ambulante Behandlung verfügt. Ziel der Therapie ist es auch, die Erlebnisse in Syrien zu verarbeiten. Esra wehrt sich gegen den Entscheid und reicht Beschwerde gegen die Fortführung der Behandlung ein. Im September dieses Jahres entscheidet das Bundesgericht, dass Esra die Behandlung fortführen muss. 

Wie lautet die Anklage?

Im Mai 2018 schliesst die Jugendanwaltschaft Winterthur die Strafuntersuchung gegen Vedad und Esra ab und erhebt Anklage. Die Geschwister sollen gegen das Bundesgesetz verstossen haben, in dem ein Verbot der Gruppierungen al-Kaida und «Islamischer Staat» sowie verwandter Organisationen verankert ist. Ein zweiter Anklagepunkt lautet auf Unterstützung einer kriminellen Organisation. 

Weil die Geschwister zum Zeitpunkt der vorgeworfenen Taten minderjährig waren, kommt das Jugendstrafgesetz zum Tragen. Demnach können sie eine maximale Freiheitsstrafe von vier Jahren bekommen. Am Montag beginnt am Bezirksgericht Winterthur die Einvernahme der Geschwister. Ein Datum für die Urteilsverkündung ist nicht bekannt.

Klar ist jedoch: Der Fall hat in der Schweiz Präzedenzcharakter. Denn Vedad und Esra waren die ersten Minderjährigen, die aus dem Dschihad in die Schweiz zurückkehrten. Wie der Tages-Anzeiger schreibt, dürfte zur entscheidenden Frage des Prozesses werden, wo genau sich die Geschwister in Syrien aufhielten und was sie dort machten.

*Namen der Redaktion bekannt.

Anti-«IS»-Allianz verkündet Eroberung der Stadt Rakka

Video: srf/SDA SRF
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20 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Nelson Muntz
03.12.2018 09:57registriert Juli 2017
Und was ist mit den für die Reise mitverantwortlichen Hassprediger? werden die bestraft?
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Gummibär
03.12.2018 06:50registriert Dezember 2016
Es würde mich wundern, wenn eine unter Zwang verabreichte ambulante psychiatrische Behandlung zu einer "Heilung" von religiösem Fanatismus führen würde.
Gibt es dafür Beispiele ?
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Muselbert Qrate
03.12.2018 09:41registriert September 2018
Danke Kurt Pelda!
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