Winterthur macht derzeit Schlagzeilen. Doch es sind keine, über die sich Vertreter und Bürger der 100'000-Einwohner-Stadt freuen dürften. Denn sie lauten so: «Aus Winterthur in den Heiligen Krieg», «Teenager aus Winterthur im Dschihad», «Winterthurer Dschihad-Kämpfer in Syrien gestorben» und «Winterthur rätselt über Dschihad-Reisende».
Spätestens seit dem vergangenen Dezember ist der Islamische Staat Thema in der Stadt. Damals zog ein Geschwisterpaar, das Mädchen 15, der Junge 16 Jahre alt, mutmasslich in den Dschihad. Nun wurden innerhalb weniger Tage zwei neue Fälle bekannt: Ein 18-jähriger Junge, der nach Informationen des Tages-Anzeigers in den gleichen Kreisen wie die Geschwister verkehrte, soll Anfang Februar nach Syrien gereist sein. 20 Minuten berichtet zudem von einem 21 Jahre alten Winterthurer, der laut dem Blatt im Kampf für den IS getötet wurde.
Dass Winterthur plötzlich zur Keimzelle für Dschihadisten geworden ist, bezweifeln sowohl Stadtvertreter als auch Extremismusexperten. «Ich glaube nicht, dass die Reisen etwas mit der Stadt Winterthur zu tun haben. Es ist Zufall, dass es hier nun vier Fälle gegeben hat», sagt Stefan Fritschi, Stadtrat des Departements Schule. Samuel Althof Kessler von der Fachstelle Extremismus und Gewaltprävention sagt: «In Winterthur sind aus meiner Sicht keine Anwerbungsstrukturen für einen Dschihad in Syrien erkennbar, es handelt sich bislang um Einzelfälle.» Und die Jugendbeauftragte der Stadt, Mireille Stauffer, wehrt sich dagegen, «dass man es als Massenphänomen darstellt».
Tatsächlich beziffert der Nachrichtendienst des Bundes die aktuelle Zahl der dschihadistisch motivierten Reisenden aus der Schweiz, die in Konfliktgebieten waren oder sich noch immer dort befinden, auf 63. Die Bundesanwaltschaft führt gegenwärtig 20 Verfahren im Bereich des radikalen Dschihadismus, darunter fallen auch die Dschihadreisen oder die Reisen zum Islamischen Staat.
Zu den konkreten Fällen wollen oder können jedoch weder Bundesanwaltschaft, Nachrichtendienst noch die Kantonspolizei Zürich Auskunft geben. Letztere bestätigte immerhin, dass man von den Fällen Kenntnis habe: «Es liegen Vermisstenanzeigen vor», sagt eine Sprecherin: «Die Ermittlungen laufen.»
In Winterthur ist man indes ratlos, wie sich die Heranwachsenden zu mutmasslichen Dschihad-Kämpfern entwickeln konnten. «Erstaunlicherweise sind es alles Jugendliche, die gut integriert und in Schule und Lehre erfolgreich und beliebt waren», sagt Jugendbeauftragte Stauffer: «Es sind Kinder aus gemässigten muslimischen Familien oder aus Familien ohne muslimischen Hintergrund.»
Es gibt viele Spekulationen über die Radikalisierung: Geschah es im Freundeskreis? In einer der Moscheen? Und was haben die umstrittenen Koranverteilungen der Gruppe
«Die wahre Religion» damit zu tun, die es in vielen Schweizer Orten gibt? «Bei uns haben sie sich bestimmt nicht radikalisiert», hatte Atef Sahnoun, Präsident des Islamischen Vereins «An’ Nur» (deutsch: «Das Licht»), im vergangenen Dezember gesagt und sich von jeglichen extremen Ansichten distanziert. Er ist überzeugt, dass die Rekrutierungen von Deutschland aus geleitet werden.Für Jugendbeauftrage Stauffer ist es hingegen «noch zu früh, um Vermutungen anzustellen», ob und von wem die Jugendlichen rekrutiert wurden. Sie verweist auf die laufenden Untersuchungen. Laut Extremismusforscher Althof Kessler sind Selbstradikalisierungen jedoch selten. «Für einen Weg in den Dschihad brauchen Jugendliche Menschen, die Kontakte zu ihnen knüpfen und ihnen die gewalttätigen Aspekte des Islams näher bringen.»
Althof Kessler hält es auch für unwahrscheinlich, dass die Jugendlichen von jetzt auf gleich in den Dschihad reisen. Vorher müsse es viele Brüche geben, innerhalb der Familie oder während der Persönlichkeitsentwicklung. «Damit die Werte zerstört sind, die einen in seiner vertrauten, sozialen Umgebung bleiben lassen – dem Umfeld seiner Liebenden –, braucht es eine lange Zeit, in welcher es zu wiederholten Verletzungen oder sogar zu Ausgrenzungen gekommen ist.»
Die Verantwortlichen in Winterthur versuchen nun, mit den bekannten Fällen umzugehen. «Ich bin sehr erschrocken. Jeder Jugendliche, der in den Dschihad reist, ist einer zuviel», sagt Schul-Stadtrat Fritschi: «Wir müssen verhindern, dass es weitere Nachahmer gibt und dass die Taten unter den Jugendlichen glorifiziert werden. Die Dschihadreisen dürfen nicht als aufregendes Abenteuer dastehen.» Auch Jugendbeauftrage Stauffer verweist auf den Nachahmungseffekt: «Einige Jugendliche kommen wohl erst auf die Idee so etwas zu tun, weil es in ihrem Umfeld geschehen ist.»
Um weitere Dschihadreisen aus Winterthur zu verhindern, hat das Schuldepartement das Thema in den Schulen thematisiert: «Wir arbeiten mit Fachkräften, etwa einem Krisenpsychologen zusammen und haben auch Kontakt zu Extremismus-Experten», sagt Stadtrat Fritschi.
Bei der Jugendarbeit in Winterthur setzt man ebenfalls auf Dialog. Nach dem Verschwinden der Jugendlichen im Dezember und auch nach den Anschlägen auf Charlie Hebdo sei in den Jugendtreffs viel diskutiert worden über Meinungsfreiheit, Witze über Religion, Fanatismus und gesunde Religiosität. «Das sind ganz wichtige und wertvolle Diskussionen, die in der Jugendarbeit aktiv gefördert werden», sagt Jugendbeauftragte Stauffer: «Die meisten Jugendlichen in Winterthur, auch die muslimischen, sind über den Weg, den diese jungen Menschen eingeschlagen haben, genauso schockiert wie wir alle.»
In Winterthur steht man vor einer weiteren Herausforderung: Was machen, wenn einige der Syrien-Reisenden zurückkehren sollten? «Wir müssen uns darauf vorbereiten», sagt Stadtrat Fritschi: «Das ist ein Risikofaktor, eine Gefahr.» Extremismusexperte Althof Kessler rät, Rückkehrern gegenüber offen und vorsichtig zu begegnen. Man dürfe sie nicht vorverurteilen: «Nicht jeder, der nach Syrien reist, begeht dort Verbrechen.»