Alain* stand daneben, als sich am Samstag rund 20 Jugendliche aus Spreitenbach AG und Dietikon ZH in der Eingangshalle des Einkaufszentrums Shoppi Tivoli prügelten. Der 16-Jährige kennt die Hintergründe des Streits. Er hat das Foto gesehen, mit dem ein Teenager aus Spreitenbach die Jugendlichen aus der Nachbarsgemeinde zur Weissglut trieb (siehe Box unten). Er hat mitverfolgt, wie der Streit in den sozialen Medien eskalierte, und miterlebt, was dann im Shoppi passierte: die Schläge, dann der Messerstich, der die Aufmerksamkeit des ganzen Landes auf sich zog. Von Jugendgangs war die Rede, von Gewalteskapaden berichteten die Sender, doch Alain schüttelt den Kopf. «Gangs gibts hier keine, und das mit dem Messer war eine Ausnahme», sagt er.
Alain lehnt an einer Säule wenige Meter neben jener Stelle, an der die Schlägerei stattfand. Hinter ihm verkaufen Fastfood-Bistros Donuts und Burger, Eltern setzen ihre Kleinkinder in blinkende Rüttelautos, Teenager fahren auf den Rolltreppen zwischen den Stockwerken rauf und runter, rauf und runter. Ja nicht gehen, einfach stehenbleiben, sehen und gesehen werden, das ist die Devise. Das Shoppi-Förderband ist der rollende Laufsteg der Agglo-Jugend, die Ladenpassage das Spielfeld der Vorstadt-Kids.
Doch es sind nicht nur Konsumtempel wie das Shoppi Tivoli, die viele Jugendliche in die Vorstädte locken. Es sind auch die ausgebleichten Blockfassaden und die versprayten Hallen in den Industriezonen. Sie bieten perfekte Selfie-Hintergründe für das Getto-Image, mit dem sich Teenager gerne schmücken. Krass sein ist in. Das Gang-Leben wird in Netflix-Serien wie «Narcos» oder «Suburra» zum glamourösen Lifestyle hochstilisiert. Harte Rapper wie die Hamburger «187 Strassenbande» – benannt nach dem Paragrafen 187 des kalifornischen Gesetzbuches, der die Strafen für Mord festlegt – sind en vogue. Das amerikanische Phänomen des «postcode envy», das den Neid auf die Bewohner der nobleren Stadtquartiere umschreibt, wird ins Gegenteil verkehrt: je abgefuckter dein Wohnort, umso besser. In dieser popkulturell aufgeheizten Jugendkultur reicht zuweilen ein provokativer Social-Media-Post, um eine Massenschlägerei auszulösen.
Hört man sich bei Jugendarbeitern um, wird das zentrale Problem schnell klar: Jugendliche verziehen sich immer öfter in digitale Parallelwelten und verpassen sich über die sozialen Medien ein Image, das mit ihren Lebensumständen wenig zu tun hat. Die Chat-App Snapchat und die Foto-Plattform Instagram wirken als Verstärker von pubertären Aggressionen, die es immer schon gab, die aber erst über die sozialen Medien ihr Potenzial entfalten.
Wer sich krass gibt, kommt schnell zu digitaler Berühmtheit. Der «Insta-Fame» bestärkt Jugendliche darin, das aufgesetzte Image aufrechtzuhalten, wenn nötig mit Fäusten und Messern. Der Berliner Philosoph Byung-Chul Han vergleicht das Smartphone bereits mit dem Rosenkranz. Beide dienten der Selbstprüfung und Selbstkontrolle. Während aber der Rosenkranz zu Tugendhaftigkeit mahnt, hält einem das Handy konstant die eigene digitale Identität vor Augen. Kurz: Die eigenen Social-Media-Profile erinnern einen daran, wie man sich zu präsentieren hat, um dem eigenen digitalen Image zu entsprechen.
Experten haben die Ernsthaftigkeit dieses digitalen Dilemmas erkannt. Ein neuer Leitfaden, den der Dachverband der Offenen Kinder- und Jugendarbeit Schweiz im Sommer erarbeitet hat, bringt die schwierige Lage von Eltern und Jugendarbeitern auf den Punkt: «Ermahnung kann moralisierend wirken, nicht einschreiten kann falsch sein.» Man will das Vertrauen der Jugendlichen nicht missbrauchen und den Zugang zu ihnen nicht verlieren. Deshalb lässt man ihnen den Raum zur digitalen Selbstinszenierung, mit dem Risiko, dass das heikle Spiel reale Konsequenzen hat: wie am Samstag in Spreitenbach.
Der Jugendpsychologe Allan Guggenbühl beobachtet die Situation mit Sorge. Diese «Dorfkriege» seien an sich zwar nichts Neues, sagt der 66-Jährige. Neu aber seien die bedrohlichen Zusammenrottungen von Dutzenden Jugendlichen, die sich über die sozialen Medien zu Schlägereien verabredeten. Dazu mische sich eine weitere Komponente: «Wir haben in der Schweiz grosse, nur halbwegs integrierte Gruppierungen jugendlicher Migranten, die weit weg von ihrer eigentlichen Heimat aufwachsen», sagt Guggenbühl. Diese Jugendlichen kreierten sich häufig einen eigenen Mythos, um sich eine Identität zu geben. «Und diesen Mythos spinnen sie nicht selten rund um ihre vermeintlich krassen Wohnorte.»
Guggenbühl sieht die Konsequenzen dieser Getto-Mythen bei seiner Arbeit. Er berät derzeit Gemeinden in den Kantonen Bern und Aargau, in denen Jugendbanden an Schulen für Probleme sorgen. Der Jugendpsychologe schildert drei Fälle.
Im ersten Fall bestimmt eine Gruppe von 13- bis 15-Jährigen, wer den Fussgängerstreifen vor dem Schulhaus benützen darf und wer die Strasse anderswo überqueren muss.
Im zweiten Fall klaut eine Bande die Portemonnaies der Mitschüler und gibt sie nur gegen Finderlohn zurück.
In einem dritten Fall findet das Getto-Getue sogar Eingang ins Klassenzimmer: Eine Gruppe Jugendlicher befiehlt den Mitschülern, dass alle drauflosreden müssen, sobald der Lehrer etwas sagen will.
Klare Organisationsstrukturen hätten diese Gruppen aber nicht, sagt Guggenbühl. Mit den mordenden Teenies der salvadorianischen «Mara Salvatrucha» oder den dealenden Gangs in Los Angeles, denen manche Jugendliche nacheiferten, hätten die hiesigen Banden nichts zu tun.
Trotzdem: Auch das Möchtegern-Gang-Gehabe reicht aus, um den Schulalltag zu erschweren, wie Beat Zemp bestätigt. Statistisch zugenommen habe die Bandenaktivität an Schweizer Schulen zwar nicht, sagt der Präsident des Dachverbands der Lehrerinnen und Lehrer der Schweiz. Er wisse aber von Schulen, an denen Banden Geld von Mitschülern erpresst hätten. «Dazu kommen Fälle von kollektivem Vandalismus in den Schulen oder in der unmittelbaren Schulumgebung», sagt der 64-Jährige.
Marcus Casutt, Geschäftsleiter des Dachverbands der Offenen Kinder- und Jugendarbeit, sagt, das sei alles halb so wild. «Einzelne Jugendliche verhalten sich in Gruppen auffällig. Das ist kein neues Phänomen und kommt im Jugendalter vor.» Casutt erinnert an die «Halbstarken», die in den 50er-Jahren mit ihrem aggressiven Auftreten viel Wirbel verursachten. Auch die Proteste der 68er- und die Jugendunruhen der 80er-Jahre hätten für Sorgenfalten auf der Stirn von Mutter Helvetia gesorgt. «In unserer Erfahrung betrifft das problematische Verhalten aber immer nur eine kleine Anzahl von Jugendlichen», sagt Casutt. Dank den sozialen Medien haben diese Problemfälle unverhofft ein mächtiges Sprachrohr erhalten.